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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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darzustellen, sondern als eine Äußerung der Treue, die Generosität gegen Beleidigung setze und auch Treue der anderen Seite verlange.
    Luhmanns dunkle, schnelle Augen bewegten sich »einfühlend«, geschützt hinter der schmalen Hornbrille, einer Augenbekleidung, wie sie in den frühen vierziger Jahren aufgekommen und inzwischen in eine moderne Façon gebracht worden war; sie gab dem schmalen »römischen« Gesicht des Gelehrten einen »reservierten« Ausdruck. Die Augen Adornos waren ohne solchen Schutz. Sie blickten ruhig und konzentriert mit erstaunlich wenigen Bewegungen auf sein Gegenüber. Trotz des ihn erregenden Gesprächsthemas: lebendige Augensterne, die von der Panik nichts verrieten, die Luhmann aus den wirren Plänen Adornos, der direkten Bitte um Rat, herauslas. Die Schläfenhaut und die Stirn Adornos dagegen schienen ihm angespannt, vom Blut unterversorgt. Auch blieb ihm die Funktion des Weins unverständlich, den Adorno in großen Schlucken in seiner Kehle verteilte. Luhmann gewann den Eindruck, daß Adorno sich weder für den Wein noch für Alkohol überhaupt interessierte. Es war auch kein Zeichen von Trunkenheit oder eine sonstige Wirkung mit der Flüssigkeitseinnahme verbunden.
    Im Hintergrund des Lokals richteten sich Pulks von laut schwatzenden Sängern, Orchestermitgliedern und Theatermitarbeitern an getrennten Tischen ein. Sie widmeten sich nach Ende der Oper ihrem Imbiß.

    Abb.: Luhmann als Flakhelfer.
    Luhmann, 24 Jahre jünger als der ihm gegenübersitzende theoretische Mitstreiter, der energisch und unaufhörlich auf ihn einredete, gehörte zu einer Generation, die erlebt hatte, wie eine Zeit aus den Fugen gerät. Für ihn war ein Bruch der Realitätsebene nichts Fremdes. Insofern empfand er die Tage in Frankfurt, die Verwerfungen, denen sich Adorno ausgesetzt sah, für sich selbst nicht als bedrohlich. Demgegenüber schien Adorno die viel vehementer wechselnden Zeiten des unruhigen Jahrhunderts wie in einem Kokon durchlebt zu haben. 34 Jetzt war die Schutzwand eingerissen. Adornos Direktheit wirkte auf den auf Beobachtung geeichten Luhmann wie ein unerwarteter Hautkontakt. Da etwas in ihm auf den ›approach‹ antwortete, empfand er die Situation, auch wenn sie ihm neu war, als gegenständlich.
    Zugleich hielt er die unerwartete Annäherung, sozusagen das Angebot einer akademischen Ehe, einer künftigen gemeinsamen Arbeit, nur weil Adorno sich mit seiner »Gefährtin« überworfen hatte, für unrealistisch. Er, Luhmann, dem Universitätsgründer Schelsky in Bielefeld versprochen, war für eine andere wissenschaftliche Front eingeteilt. Zwischen der Kritischen Theorie, als deren Haupt Adorno galt, und der Systemtheorie, deren wichtigster Exponent in der Bundesrepublik er sein würde, klafften zumindest nach der Beobachtung Dritter Abgründe; Brückenbau bisher unversucht.
    Die Flasche im Eiskübel war zweimal ausgewechselt worden. Ein Nachtisch wurde serviert. Luhmann hatte sich gegen einen solchen Nachtisch gewehrt, jedoch bemerkt, daß Adorno »nötigte«, wie man es in früheren Generationen gewohnt war, bei »wichtigen Besuchen« Zusatzangebote in die Kommunikation einzubringen. Das galt inzwischen als Sitte einer untergegangenen Gesellschaft, war allerdings noch ländliche Gewohnheit; während doch Adorno absolut Städter, ja ein alter Metropolenbewohner aus dem Zweistromland zu sein schien.
    Die beiden Gelehrten sahen einander nie wieder. Zwei getrennte Taxis waren für sie bestellt. So fuhren sie in der Nacht jeder an seinen Ort. Nachträglich schien Luhmann (nach Adornos frühem Tod im bald folgenden August) das Abendessen ein »Realitäts-Zwitter«. Der merkwürdige »Sproß aus fremder Zeit«, der sich verhielt, als könne man an einem einzigen Abend Lebensfreundschaften schließen, nur gestützt auf den unstreitig lebendigen Liebesstrom, welcher der gemeinsamen theoretischen Bearbeitung harrte, hatte die Ich-Schranke für einen Augenblick durchbrochen. Adorno schien ihm an jenem Abend gleich weit entfernt von einem »neuen Leben« wie vom Tod. Einen Moment hatte Luhmann (dessen kühler Geist heute bekannt ist) den Eindruck gehabt, daß in diesen Wirren Frankfurts sich innovative Kräfte aus einer alten Wurzel in Bewegung befanden, die auf die studentischen Pulks, denen Luhmann am folgenden Tag auf seinem Weg zum Seminar zusah, nicht reduzierbar waren.

Das Rumoren der verschluckten Welt

    Abb.: Argo Navis. Sternbild in der Form eines Segelschiffs am südlichen

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