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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Tokio, also um ein Uhr nachts amerikanischer Ostküstenzeit, nichts Bestimmtes mehr. Ja, was sah er genau? Schloß er die Augen, hätte er in seine Hirnschale geblickt, wo sich tatsächlich keine Innenwelt befand, sondern Milliarden Synapsen, die das Auge nicht zu sehen vermag, in stürmischer Aufregung. Aber für solche Innenansicht war keine Zeit. Noch länger auf die Computer und Telefone, die Papierstapel oder die eiligen Assistenten zu blicken, dafür war er zu müde. Sich schlafen zu legen, andererseits, war ein absurder Gedanke. Zu diesem Zeitpunkt gab er Weisung, den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach Chapter Eleven an das Gericht zu übermitteln.
    In den Daten, die sein Sekretariat über jede seiner Bewegungen festhielt, trug die Woche die Spuren eines Kampfes. Nur hatte der Einzelkämpfer Ort und Zeitpunkte der Kampfhandlungen falsch rubriziert. Wo er etwas für Kampf hielt, blieben die Sachen unentschieden, wo er keinen Kampf vermutete, fand einer statt. So hatte er es nicht als entscheidendes Gefecht aufgefaßt, daß sein Widersacher Henry Paulson, den er bitter verletzt hatte (als dieser noch Vorstandsmitglied einer Konkurrenzbank war), seinen Antrag auf Staatshilfe brüsk abwies. Er wollte nicht glauben, daß dieser US -Finanzminister sich auf persönliche Gründe, also Emotion, stützen werde, wenn es um das sachliche Schicksal des Bankhauses Lehman Brothers, einer unverzichtbaren Bastion des Handelsplatzes New York, ginge. Er hielt sich in dem Wortgefecht für den Sieger und zeigte eine »gleichmütige Haltung«.
    Noch immer glaubte er daran, daß ein persönlicher und alle Dritten überraschender Vorstoß von seiner Seite für die Gesamtlage eine Wendung bringen könnte. In Tokio verhandelte er über einen Kredit. Das war aber nur der Vorwand, um geographisch in der Nähe der chinesischen Partner zu sein (die er noch für kooperationswillig hielt). Ich bin hier schon in Ihrer Nähe, ließ er ihnen mitteilen, ich fliege morgen das kurze Stück zu Ihnen und würde Sie gerne sprechen. Dabei hatte er nicht abgebildet, daß eine bedeutungsvolle Entscheidung wie die über den von ihm erwarteten Großkredit einer Übernahme der drittgrößten amerikanischen Bank durch die Volksrepublik China gleichgekommen wäre und daß innerhalb der institutionellen Struktur jenes Reiches Entscheidungen nur durch Gremien und nicht durch Personen getroffen werden können. Das waren Prozesse, die zwei oder mehr Wochen dauern mußten. So flog er ohne Ergebnis wieder zurück. Die tückischen Briten von Barclays Bank erwarteten ihn. Sie waren nicht bereit, ihr Unterstützungsangebot zu verbessern.
    Die Schlacht entschied sich am Sonntag infolge der gleichzeitigen Krise der AIG (American International Group). Ganz mechanisch brachte die Notwendigkeit, diesen Versicherungsriesen zu retten, die Chance einer Staatsintervention zu Fulds Gunsten an ein Ende. Mit der Rettung der AIG waren die verfügbaren Mittel der öffentlichen Hand ausgeschöpft.
    So hatte nicht einmal Paulson ihn vernichtet, sondern der Zeitablauf: die durch Reisen, eilige Entschlüsse und Umkonstellationen, auch durch seinen Bluff, das Aufsetzen seines gleichmütigen, entspannten Gesichts, vertane Zeit. War er denn überhaupt vernichtet? Blutstrom und Atem stockten ihm nicht. Nicht er, die Bank war eingestürzt. Die gewohnten anerkennenden Blicke der Mitarbeiter und Assistenten fühlte er nicht mehr auf sich ruhen.
    In den Morgenstunden trugen die ersten Angestellten, die aus dem Unternehmen flüchteten, ihre Unterlagen in Kartons aus dem Gebäude. Vertreter ohne Vertretungsmacht in sicherer Erwartung der Genehmigung durch die noch festzustellenden Entscheider (den Insolvenzverwalter oder den CEO ) übereigneten das laufende Bankinggeschäft und das zentrale Gebäude des Businesscenter an Barclays. Was außer dem verschiedenen Aussehen unterschied den besiegten Konzernherrn von Napoleon in Fontainebleau? Das hagere, scharfgeschnittene Gesicht des CEO glich nicht dem runden Kindergesicht des abgedankten Kaisers. Beiden war es gemeinsam, daß sie nicht mehr in das Zeitalter paßten, in welchem sie groß geworden waren.
Die Inflation regnet sich ein
    Die Protagonisten des Kolloquiums, die heute tafelten und Absprachen für die morgige Veranstaltung trafen, saßen an zwei porzellanbedeckten Tischen. Dem einen saß die Hausherrin vor, dem anderen der Hausherr. Das zwei Stockwerke große Wandbild von Anselm Kiefer im Treppenhaus habe er für 400000

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