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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Sternenhimmel. In dieses Sternbild ist die Arche Noah eingezeichnet. Das Schiff enthält, so die Überlieferung, eine »Truhe mit Schriften«, die gerettet werden sollen. Die Vollständigkeit der Schriften wurde im Wege des ARRAISONNEMENT vor Abfahrt geprüft.

1
Absturz aus der Wirklichkeit
    Unter den Füßen eines Kindes gab das Eis nach. Die Hände des Kindes suchten Halt an den Rändern der kalten Materie. Retter legten Leitern über das Eis. Immer aber, wenn sie sich dem Kind näherten, brach die Kruste.
    Durchsacken durch einen Wirklichkeitsboden gehört zu den Gottesstrafen. Einer verliert alle Illusion (Wirklichkeitsverlust). Einer verliert die Zeit, in der er lebt (Geschichtsverlust). Beides nimmt im 21. Jahrhundert zu.
    »Wer auf dünnem Eis Schlittschuh läuft, wird nur dann nicht einbrechen, wenn er so schnell wie möglich weiterläuft.«
Tödlicher Zusammenstoß zweier Rennpferde
    In voller Geschwindigkeit sind am Dienstag an einem Strand an der Küste Nordfrankreichs zwei Rennpferde tödlich verletzt worden. Der Unfall im Badeort Saint-Jean-le-Thomas hatte sich ereignet, als eine Trainingsgruppe für Jungunternehmer mit drei Pferden bei hohem Tempo in eine entgegenkommende mit zwei Pferden hineinkreuzte. Eines der Tiere brach seitlich aus, während zwei Pferde frontal mit den Köpfen zusammenstießen. Wegen der steigenden Flut hatten die Sportler nur wenig Platz.
    ###
Für die Pferde wäre der Ausweg ins Wasser einfacher gewesen. Pferde schwimmen. Jungunternehmer auch. Es hätte ihnen aber nach den Regeln des Trainings als Feigheit ausgelegt werden können, hätten sie die Enge des Raumes für den Vorbeiritt gemieden. Wagemut war gefragt. So lenkten die Schenkel das Schicksal.
Und intelligente Tiere – ich gehe davon aus, daß die Firma, die dieses Unternehmenstraining betrieb, besonders schlaue Tiere für die Ritte am Strand ausgesucht hatte, welche Zusammenstöße von sich aus vermeiden. Ich hatte immer gedacht, Pferde seien instinktsicher.
Nicht unter Bedingungen, wie sie an Nordfrankreichs Stränden bei stürmischer See existieren. Sie halten das Getöse der Brandung für Gewitter und werden in ihrem Instinkt unsicher.
So daß, versicherungsrechtlich gesehen, der Unfall nicht von Menschen veranlaßt ist?
Nicht von den beiden Reitern.
Obwohl sie mit Schenkelkraft die Idee des Trainingslagers gegenüber den verunglückten Pferden durchsetzten.
Sie meinen, die Initiatoren des Trainingslagers seien die Verantwortlichen und insofern haftbar?
Das will ich doch meinen. Sie setzten den gesunden Menschenverstand außer Kraft, ebenso wie den Instinkt der Pferde. Beides hätte die Kollision unwahrscheinlich gemacht. Die Katastrophe sieht ja ähnlich aus wie die Kollision in einem mittelalterlichen Turnier.
Mit der Besonderheit, daß eines der Pferde seitlich ausbrach. Beinahe wären die beiden Reitergruppen auch bei enger Plazierung aneinander vorbeigekommen.
Das Wort »beinahe« gibt es im Versicherungsrecht nicht.
Das müßte Thema des nächsten Jungunternehmer-Trainingslagers sein.
Welches Gestüt stellte die Pferde?
Das ist ein interessanter Hinweis, den ich an die Anwälte der Versicherung weiterleiten möchte. Das Gestüt hätte Pferde, die mit Schlechtwettererfahrung an diesem Strand ausgerüstet gewesen wären, zur Verfügung stellen müssen. Vielleicht ist daher die Lieferfirma der Pferde die Schuldige.
Der Moment des Zusammenpralls der Pferdeköpfe, unter Zerstörung beider Hirne (es sind Rennpferde von hoher Qualität), umfaßt, wie ich dem Bericht entnehme, zwölf Sekunden. Vorher hätte man durch leichte Kopfbewegung den Zusammenprall vermeiden können, in den letzten zwölf Sekunden nicht mehr.
Man hätte langsamere Pferde gebraucht.
Ja, Reitpferde, nicht Rennpferde.
Das war bei dem Ehrgeiz und dem Rang der Jungunternehmer schwer möglich. Man mußte Best-Pferde nehmen.
Wie das Ganze ja ein Best-Training war für Best-Leute.
Ist das Trainieren auf solche Werte für Unternehmer, die einmal börsennotierte Firmen befehligen werden, nicht gefährlich?
Wenn Firmenköpfe auf engem Strand gegeneinander anrennen, führt das bei der geringsten falschen Bewegung zum Zusammenstoß der Hirnknochen.
Sie meinen zum Tod beider Firmen?
Das Problem ist in der Welt bekannt.
So etwas sollte nicht in Trainingskursen für die Elite geprobt werden.
    ###
    Die Gesprächsteilnehmer, die in Balbec bei ihren Aperitifs saßen, in gewisser Vorfreude, wie sie nur Gallier empfinden, auf die abendliche Hauptmahlzeit,

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