Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

gehörten konkurrierenden Versicherungsunternehmen an. Generell kam es darauf an, das Risiko der Versicherungsgesellschaften, der befreundeten wie der verfeindeten, zu senken. Kühnes Jungunternehmertum, vor allem seine Anreizung durch erfolgslüsterne Trainer, lag keineswegs im Interesse von Versicherungsgesellschaften, die Wahrscheinlichkeiten verwalteten.
Macht über den Mächtigen
    Vor dem Urologen liegt der Mächtige. Er ist Außenrepräsentant einer Supermacht. Er liegt in Seitenlage und ist voller Befürchtung. Ich muß ihn zunächst zum Entspannen bringen, da ich weder mit dem Finger noch mit dem Gerät die Anussperre überwinden kann. Ich entspanne ihn, indem ich über seine Hüften streiche. Meine Untersuchung entscheidet, ob er für sechs Wochen aus seiner Arbeit herausgenommen wird. Aufgrund der Eile, die keine geordnete Rekonvaleszenz nach der Operation erlaubt (keine Eingewöhnung in das nach Entfernung der Vorsteherdrüse neuartige Harn-Regime), wird sich eine Inkontinenz auf längere Zeit zeigen; der Mächtige muß Beutel tragen und wird dennoch Flecken auf seiner Hose aufweisen.
    Die Alternative wäre ein Urteil meinerseits, daß das Wachsen des Karzinoms als so langsam zu erachten ist, daß wir mit der Operation warten könnten bis zur Beendigung seines Amtes (nach den Neuwahlen des Präsidenten). Meiner Willkür ist ein gewisser Ausschnitt aus diesem Urteil anvertraut.
    Diese Macht über ihn muß ich verbergen, wenn ich sein Vertrauen behalten will. So ist auch die ärztliche Macht, vor der die Supermacht in Seitenlage Hilfe heischend liegt, nicht wahrhaft mächtig.
    Verschoben wurde die Operation auf die Feiertage, die das Jahr abschließen. Auf Heiligabend und zwei Weihnachtsfeiertage folgten ein Samstag und Sonntag, und die Kette der arbeitsfreien Tage wiederholte sich in der folgenden Woche. Wir hofften, daß kein Schurkenstreich und keine der Kampftruppen des asymmetrischen Krieges gerade diese Tage für eine Aktion nutzen würden, die den frisch Operierten passiv träfen.
Absturz aus der Wirklichkeit
    In der grenzwissenschaftlichen Literatur ist unbestritten, daß im Umfeld großer gesellschaftlicher Katastrophen sich »Abstürze aus der Wirklichkeit« finden, in denen Teile der »überschüssigen« Realität, auch Menschen, verschwinden. Das liegt, heißt es bei Sir Sinclair Houston, daran, daß wir nur meinen , in einem Universum zu leben, tatsächlich leben wir in mehreren, miteinander verschränkten Welten. Daß sich mehrere 100000 Menschen gemeinsam und gleichzeitig aus einer Wirklichkeit wegwünschen, bleibt nie ohne Wirkung, es öffne einen solchen »Abgrund«, sagt Houston. Oft trifft es die Tapfersten. Die ABGRÜNDE entstehen nämlich »blind«. So geschah es während der Gallipoli-Offensive im Jahre 1915: 266 Soldaten des Norfolk-Regiments marschierten bei Hügel 60 der Suvla Bay in eine Wolke hinein und kamen nicht mehr heraus.
    ###
Man forschte nach ihnen?
Auf beiden Seiten, der türkischen wie der britischen.
Die Wolke war längst verschwunden?
Nicht zu finden dort, wo man sie eben noch gesehen hatte. Nachzügler sahen noch die Wolke, aber nichts war zu erblicken von den Soldaten.
Keine Toten?
Nicht ein einziger. Obwohl die türkische Infanterie in die Wolke hineingeschossen hatte, in der das angreifende Regiment verschwunden war.
Was hat man den Angehörigen über den Verbleib geschrieben?
Sie seien verschollen.
Könnte es sein, daß die Truppe das Schlachtfeld (unter Nutzung der Wolke) verlassen hatte? Ein Fall von kollektiver Desertion?
Nicht bei Hügel 60. Ferngläser auf den Schiffen beobachteten die Steilküste. Die Front befand sich unter vollständiger Kontrolle. Auch die türkische Seite besaß, Quadratmeter für Quadratmeter, wenn nicht gerade die seltsame Wolke ihn störte, vollständigen Überblick.
    ###
    Daß jeder Angreifer zu sehen war, war ja das fürchterliche Menetekel der Schlacht in den Hügeln von Gallipoli. Bei dem Ausdruck »sie rannten in den offenen Schlund des Verderbens« liegt die Betonung auf dem Wort »offen«.
    ###
So marschierten die Tapferen vom Regiment Norfolk an der einzigen verdeckten Stelle aus dem Verderben heraus?
Aber wohin? Was war das für eine Wolke?
Man weiß nicht, um was für eine Wolke es sich handelt. Staub war es nicht.
Einer der letzten Einzelkämpfer
    Einer der letzten Einzelkämpfer in Manhattans Vorstandsetagen, Richard S. Fuld, der Chef des Bankhauses Lehman Brothers, sah in der Viertelstunde vor Öffnung der Börse in