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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Paris, London oder New York hätte drehen können. Es war auch zweifelhaft, ob ein Filmteam aus der Sowjetunion eine Dreherlaubnis für Aufnahmen an den kapitalistischen Börsenplätzen erhalten hätte.
    Eisenstein wollte die Aktienwerte indirekt durch die Reaktion der betroffenen Menschen darstellen, so berichtete er es James Joyce, und hierfür bat er um Texte des Dichters. Dazu helfen keine aktuellen Aufnahmen von Ereignissen des laufenden Monats, meinte er. Die Reaktionen bilden sich viel später heraus. So müsse man jetzt aufnehmen, was die Concierges von Paris vor zehn Jahren erlebt hätten, als sich herausstellte, daß die Sowjetregierung die Anleihen für die sibirische Eisenbahn aus der Vorkriegszeit (Tranchen von 1902 bis 1908), welche die Concierges in kleinem Umfang erworben hatten, nicht mehr bedienen würde. Diese Concierges waren mächtige Frauen, Herrscherinnen und Kontrolleure der Hauseingänge seit der Französischen Revolution. Gerade jetzt entschieden sie über den Ausgang der Wahlen. Sie weigerten sich, Frankreichs kommunistische Partei zu wählen, weil der Rat der Volkskommissare in Rußland ihre ersparten Vermögenswerte auf null gebracht hatte. Im Film muß man erst diese Empörung zeigen und anschließend darstellen, inwieweit Lenin doch (weitsichtig) auch ihre Interessen wahrnehme, sagte Eisenstein. Joyce improvisierte die Tonart einer solchen Concierge, einen Monolog in französischer Sprache mit englischen Einschüben. Es klang wie ein Singsang.
Ein Vorschlag aus Alexandria
    Ein Spielkasinobesitzer aus Alexandria, der seine Vorfahren mütterlicherseits auf Phönizier zurückführte, die Vorfahren väterlicherseits dagegen auf griechisch-venezianische Ahnen, trat im Dezember 1929 an das Kommissariat für Außenhandel der Ud SSR heran. Er bot an, von unauffälligen Börsenplätzen aus, zum Beispiel Alexandria und Istanbul, auf Rußlands Rechnung Aktien amerikanischer Technologie- und Elektrizitätskonzerne aufzukaufen, die nach dem Schwarzen Freitag und der Serie der folgenden Kursstürze für einen verblüffend geringen Gegenwert zu erhalten waren. Nach Erwerb solchen Eigentums könne man die Technologien in die Sowjetunion abtransportieren. Dem Exposé war eine Aufstellung beigefügt, aus welcher sich ergab, daß Rußlands nächster Fünf-Jahres-Plan in diesem Fall vier Jahre eher durchgeführt sein würde als ohne einen solchen Erwerb. Woher hatte der Mann aus Alexandria eine solche Information?
Das sibirische Meer
    Während seines Fluges nach Tokio, wo sie gemeinsam auf dem Podium reden würden, saß neben Heiner Müller stundenlang der welterfahrene Pole Ryszard Kapuściński. Dessen Buch Imperium hatte Müller schon zu Hause mit Anmerkungen und Anstreichungen versehen. Im Flugzeug wurde Whisky ohne Eis serviert, soviel man bestellte. Die beiden Gesprächspartner waren froh, daß sie in der ununterscheidbaren Weite, die unter der Maschine sich hinzog und das Tageslicht reflektierte, nicht zu Fuß laufen mußten. Auch schien keine Notlandung des Flugzeugs zu erwarten, die sie auf einer dieser Schneeflächen aussetzen würde. Die Schnur der transsibirischen Eisenbahn, von der sie gehört hatten und nach der sie spähten, war auf der Flugroute nicht zu sehen. Die Strecke lag vermutlich im Süden.
    Man kann nicht ein Stück über die Utopie im 20. Jahrhundert schreiben, sagte Heiner Müller, und das wichtigste auf Utopie gerichtete Projekt des russischen Imperiums auslassen, nämlich die Erschaffung des sibirischen Meeres. Davon hatte Kapuściński erzählt. Ihren Höhepunkt erlebten die Vorbereitungen dazu im Jahre 1929, sagte er. Die Kader waren ermutigt durch die Krise des Kapitals, die sich im Oktober gezeigt hatte. Die Euphorie erfaßte den Mittelbau des sozialistischen Regimes, die Ingenieurs- und Planungsstäbe. Es ging darum, die ohne Nutzen nach Norden ins Eis abfließenden wasserreichen sibirischen Ströme oberhalb von Tomsk und Tobolsk zu stauen. Dadurch entstünde ein Binnensee, nicht so groß wie, aber wirkungskräftiger als das Mittelmeer. Der verantwortliche Planer Davidoff, ein Star der zwanziger Jahre, hatte im Süden dieses künstlichen Meeres und entlang der Kanäle, welche dieses Meer mit dem Schwarzen Meer verbinden sollten, einen breiten Waldgürtel eingezeichnet. Auf einer Karte war das mit einigen Strichen darstellbar, auch wenn dies bedeutete, daß die Bäume zwanzig Jahre Zeit zum Wachsen brauchten. Mit einem regulierten Gefälle von 200 Metern, also über die

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