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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Euro gekauft, berichtete der Hausherr. Es sei ihm teuer, daher unverkäuflich. Vermutlich sei aber der Wert gestiegen. Die Haltbarkeit des Leims und der anderen Hilfsmittel, welche die Installation und Teile des Kunstwerks zusammenhielten, taxiere er auf 15 Jahre Lebensdauer. Der Künstler sei leichtsinnig in der Wahl seiner Arbeitsmittel. Wenn die Teile auseinanderfielen, würde auch der Wert gemindert werden.
    An diesem Tisch saßen fünf Finanzexperten und ein Historiker. Sie stimmten darin überein, daß die Fiskalbehörden der USA den Schuldenberg durch eine Inflation beseitigen würden. Und zwar würde dies genau in jenem Augenblick geschehen, in welchem die Anleger von kurzfristigen Anleihen, die sie derzeit ausschließlich akzeptierten (und die eine Inflation verhindern), auf mittel- und langfristige Anleihen mit attraktivem Zinssatz umstiegen. Das entspreche der Erfahrung in den vergangenen hundert Jahren. Diesen Moment nutzen Regierung und Notenbanken von verschuldeten Republiken. Selbstverständlich nicht vorsätzlich, warf der Historiker und Jurist Hannes Siegrist ein, sondern grob fahrlässig. Als Juristen nennen wir das »luxuria«. Die Fahrlässigkeit liege darin, bemerkte einer der anderen Gesprächsteilnehmer, daß sich das Ermessen bei solchen Entscheidungen auf einander folgende Regierungen, also entlang der Zeitachse, verteile. Ein Minister und sein Apparat treffen eine Entscheidung. Sein Nachfolger und seine Mitarbeiter unternehmen hierauf einen weiteren Schritt. Der Entschluß zur Inflation werde insofern an den Schnittstellen getroffen, also beim Wechsel der Regierung, dort, wo scheinbar nicht entschieden wird. Insofern stürzen die Werte nicht ab, setzte der Hausherr den Gedanken fort. Vielmehr sind sie am Ende abgestürzt. Man könnte das nur vermeiden, wenn man überhaupt keine Regierung hätte. Das haben wir schon oft gesehen, redeten die anderen durcheinander. Deshalb sehen wir die unmerklichen Schritte, die man ohne die Präzedenzfälle nicht wahrnehmen würde. So daß es in jedem Fall zur Inflationierung kommt. Das ist sicher, nur nicht, auf welchen Wegen es geschieht, faßte Kai A. Konrad zusammen.
November 1923
    Im Garten des Hauses, in welchem sich im November 1923 der Bankier Friedrichsen erschoß, spielten seine beiden Kinder im Schnee. Unter Anleitung ihrer Kinderfrau bauten sie einen Schneemann und um diesen herum eine Mauer. Die Wangen rot von der Kälte und aus Eifer. Bis spät in den Abend hinein wurden sie vom Personal im Garten gehalten. Als sie hereingeholt wurden und in der Küche ihr Essen bekamen, war der Tote von den Ortspolizisten bereits abtransportiert. Die Obduktion ergab, daß kein »Fremdverschulden« vorlag. Sein Vermögen war verloren. Vierzig Jahre lang hatte der Bankier die Finanzen des inzwischen zerschlagenen Deutschen Reiches verteidigt.

    Abb.: Marta Kluge (das »h« hinter dem »t« ist eingespart). Im Jahre 1923 im Tiergarten zu Berlin. Stolzes Roß mit Hund. Das Kleid hat sie im Schlußverkauf ergattert. In diesem Krisenjahr spekulierte sie noch im November auf Kredit, in dem sie für wertlose Milliarden ein Kilo Kümmel kaufte. Sie wollte den Vorrat nach Ende der Inflation umtüten und hundertgrammweise auf Rentenmarkbasis verkaufen. Kaufmännisch war sie nicht versiert. Ihrer Begabung nach war sie eher Lehrerin. → Sie führte ein Leben voller Berechnung, Chronik der Gefühle , Band II , S. 558.
Die Concierges von Paris
    Bei seinem Besuch Ende November 1929 bei James Joyce in Paris hatte Sergej Michailowitsch Eisenstein ein Konzept für seinen Film über das Kapital von Karl Marx mitgebracht. Joyce sollte diese Skizze zu einem Drehbuch ausarbeiten. Eisenstein versprach sich davon eine JOYCESCHE WORTKASKADE , aus der er dann Sequenzen mit den Mitteln des Stummfilms entwickeln wollte. Joyce war zu diesem Zeitpunkt praktisch blind. Ungenau sah er die zwei großen Lampen, die den Raum erhellten. Gar nichts vermochte er zu lesen in dem Manuskript, das ihm Eisenstein vors Gesicht hielt. Was er denn schreiben sollte, fragte Joyce, wenn es doch diese Skizze schon gebe?
    Nirgends in dem Entwurf war eine Bildfolge vorgesehen, die vom Schwarzen Freitag handelte, über den in diesen Tagen in den Zeitungen berichtet wurde. So etwas hätte (nach Eisensteins Vorstellung) von einem Dokumentarteam unter Dziga Vertov gefilmt werden müssen. Der aber hätte eine Ausreisegenehmigung in den Westen nicht so rechtzeitig erhalten, daß er noch während des Geschehens in

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