Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
weite Strecke hin sanft fließend, zogen sich der Hauptkanal und seine Parallelen durch den Süden der Sowjetunion. Noch nie hatten Menschen ein solches Meer und einen künstlichen Fluß von solcher Größe erschaffen.
In jenem Flugzeug nach Tokio und zur selben Tagung aufs Podium geladen, befand sich ein Klimaforscher aus Potsdam. Er mischte sich in die agile Debatte der lebhaft inhalierenden Freunde ein. Er behauptete, das sibirische Meer, wäre es je entstanden, hätte zu einer massiven Aufheizung des Dauerfrostbodens der nördlichen Tundra und damit zu einer unkontrollierten Freisetzung von Gasen geführt, Methan und Kohlenstoffdioxid: Rußlands Himmel oder sogar die des gesamten Planeten wären vergiftet worden. Und Sie meinen, erwiderten Kapuściński und Müller, daß Davidoffs Ingenieure dafür keinen Ausweg gewußt hätten? Gesetzt den Fall, sie wären überhaupt durch dieses Phänomen überrascht worden und hätten es nicht zuvor einkalkuliert, ominöse Rechner, die sie waren? Müller wies darauf hin, daß ein Drama über dieses Projekt, aufgeführt im Berliner Ensemble, keinesfalls einen Schaden für das Klima der Erde erbringen würde.
Das Flugzeug war inzwischen nach Südosten abgebogen. Hohe Gebirgsketten, die Müller nicht mehr für Sibirien hielt, erschienen in den ovalen Fensterluken. Warum wurde das sibirische Meer später nicht realisiert? Die Pläne hätten eine Bauzeit von zehn Jahren erfordert. Diese zehn Jahre standen Davidoffs Team nicht zur Verfügung: Die Revolution stürzte ab. Die Mitarbeiter der Planungsstäbe von 1929 und die in den zwanziger Jahren noch allmächtigen Ingenieure, die ein solches Vorhaben hätten umsetzen können, wurden schon fünf Jahre nach Beginn der Vorarbeiten verhaftet und umgebracht. Bis dahin bestehen diese Vorarbeiten aus Studien, Versammlung von Kadern und Haushaltsmitteln, Entwicklung von Großgeräten auf Blaupausen, wie man sie für die gewaltigen Erdbewegungen braucht. Die utopische Aussicht, die ihn überraschende Perspektive eines sibirischen Meeres, ja der dichten Besiedlung jenes östlichen Teils des Kontinents (als wäre es der Mars) hatten in Müller, auch im Sog von Zigarren, ein wohliges Gefühl aufkommen lassen. Die Bilder der »Säuberungen« und hoffnungslosen Schauprozesse wollte er aus seinem Kopf verbannen. Nur fünfzig Jahre dauerte die Reform des Kaisers Meiji, wechselte er das Thema. Aus einem mittelalterlichen Land entsteht eine Industrienation, deren Stahlschiffe die Flotte des Zaren auf den Meeresgrund schicken. Das wäre ein guter Anfang für sein Referat in Tokio, meinte Müller. Ähnlich hätte man in 100 Jahren Sibirien zu einer »blühenden Landschaft« der euro-asiatischen Landmasse machen können. Mit Ferienhütten an den Ufern des sibirischen Meeres, vom Wind bewegt. Die beiden Debattierer und Fenstergucker (die Maschine war nicht stark besetzt, und so konnte der eine der beiden aus dem linken Fenster hinaussehen, während der andere die Landschaft aus der rechten Luke betrachtete) wußten nicht, daß bereits zwanzig Jahre nach ihrem Tod ein Konsortium von Oligarchen in Zusammenarbeit mit Ingenieuren von Gazprom das Projekt eines zentralen Wasserbeckens in Sibirien wiederaufgreifen würde. Diesmal in Gewinnabsicht ohne besonderen utopischen Ansatz. Wo kann man auf dem Planeten Erde (sofern man von der Antarktis und der Sahara absieht) eine so umfassende Planung noch plazieren? Hundert Kilometer breite Spiegel im Orbit, welche die Sonnenstrahlen auf die sibirischen Nordebenen richten, sollen die Landmasse so rasch aufheizen, daß das im Boden gespeicherte Gas sofort in Behälter abgesaugt werden kann, ehe es in die Höhen der Stratosphäre gelangt und dort Unheil bewirkt.
Abb.: Umlenkung sibirischer Ströme. Wasserbauprojekt von 1929. Davidoff galt als Anhänger von K. A. Wittfogels Wasserbautheorie; das kennzeichnete ihn wenig später als Ketzer.
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Abb.: A. A. Smirnow-Schmidt.
Davidoffs Geliebte und Chefingenieurin.
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