Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Aus Halberstadt kenne ich meinen Schulkameraden Siegfried Welp, dessen Vater Kriminalpolizist ist. Und ich kann ausschließen, daß dieser Mann Morde begeht. Die beiden großmütigen Gastgeber (ich war ihnen sympathisch und fremd) lächelten, gingen darüber hinweg. Wie schäme ich mich, so dahergeredet zu haben, aus voller, lebhafter Überzeugung. Enzensberger tröstet mich. Er war rascher gewesen, hatte sich 1948 noch bedeckt gehalten und 1949 während seines Englandaufenthalts schon genügend Nachricht von den Morden gehabt.
In den sechziger Jahren wohnte er, von der Westseite der Wohnung Adornos aus, im Kettenhofweg 123, auf der gegenüberliegenden Hofseite. Man konnte in sein Arbeitszimmer hineinsehen. Dort wohnt Enzensberger, er ist Lektor im Suhrkamp Verlag, sagte Adorno. Da war Enzensberger schon im antifaschistischen Format befestigt. Was er politisch genau war, ließ er unbeantwortet. War er Anarchist? Agnostisch? Liberal? Links? Polyvalent? Immer blieb er unbestimmt, entsprechend der ursprünglichen Kondition: Ich werde mich nicht selbst belügen. Was bedeutet das? Eine gewisse Distanz. Ein Maß Skepsis, ein gewisses Quantum an Nonsens und Verweigerung, außerdem PUN .
Ich war 1948 in England Gast von H. Cobden Turner, Mitarbeiter des Geheimdienstes Seiner Majestät, Ingenieur, Elektronik-Unternehmer; er kannte meine Mutter aus den dreißiger Jahren, war im Jahre 1939 Gast im Hause Hauptmann-Loeper-Straße 42 gewesen. Dann, im Jahre 1946, stieg er in Berlin ab, im Hotel »Bristol«. Ich erhielt als Sproß der von ihm verehrten Alice, meiner Mutter, einen Geldschein über fünf Schweizer Franken. Den verwahre ich noch heute als unwägbaren Schatz in einer Kiste.
H. Cobden Turner war ein Mann, der zu Belehrungen neigte. Er fuhr mit mir über die englischen Straßen in Richtung Bath. Er forderte mich auf, mit ihm (der Rolls-Royce bot genügend Raum) Schach zu spielen. Er machte mir klar, daß ich ein Hochstapler wäre, weil alles Unkenntnis sei, was ich an Schach vorführte. Von zwölf Partien gewann ich nicht eine. Da er inwendig noch aus den dreißiger Jahren eine Neigung zu meiner Mutter verspürte, hielt er mich trotz offensichtlicher Nicht-Intelligenz für ein werthaltiges Gegenüber.
Beide, Enzensberger und ich, finden wir, daß uns die britische Connection, über die Protestzeit von 1968 hinweg, anders geprägt habe als jeder andere dominante Einfluß in der Geschichte der Bundesrepublik. Es ist schon nach Mitternacht. Beide sitzen wir zurückgelehnt. Nicht immer verkehrt man mit so verschiedenen Zeiten gleichzeitig. Durch die nach unser beider Meinung verrückte europäische Sommerzeit ist uns eine Morgenstunde am folgenden Tag weggenommen, von Brüssel »dekretiert«; da ist es schon egal, ob wir noch einige Zeit wach bleiben, der Schlaf käme eh zu kurz. Das unter Zeitgenossen.
Sturz eines Hochbegabten
Wolfgang Meier, Jahrgang 1932, Sohn des Amtsarztes von Halberstadt, war in der Sexta unseres Gymnasiums der aufgeweckteste. Im 60-Meter-Lauf der schnellste (er startete um Bruchteile einer Sekunde früher als wir anderen, weil die Impulse auf seinen Nervenbahnen rascher glitten, die Wege in seinem mediterran schmalen Körper kürzer waren). Eines Tages hieß es, er käme nicht zum Unterricht, er sei gestürzt. Lange Zeit blieb er fort. Auch ich, sein Freund, konnte nicht zu ihm vordringen. Abgeschirmt lag er in seinem Zimmer, das von Vorhängen verdunkelt war. Man erzählte, er sei bei waghalsigen Schwüngen auf der Schaukel aus größerer Höhe herabgefallen und auf den Schädel gestürzt. Man wisse nicht, ob sein Hirn sich wieder erholen werde.
Das blieb in der Welt unserer Schulklasse eine Zäsur. Zurückgekehrt auf seinen Platz in der zweiten Reihe der Schultische, blieb seine lebhafte Natur still. Wir merkten, daß er nur schwer verstand, nicht mehr derselbe war. Das hielt sich so bis zur Kapitulation des Reiches (niemand von den Lehrern wollte dem Jungen die Versetzung verweigern, und so harmonisierten sie die Noten). Nach unserer Rückkehr vom Landeinsatz waren die US -Truppen von den Briten und dann diese von den Russen abgelöst worden. Der Amtsarzt Dr. med. Meier mit allen Angehörigen war in den Westen geflohen.
Dreißig Jahre später erreichte mich der Anruf eines »Sanitätsgefreiten der Bundeswehr Wolfgang Meier«. Er habe meinen Namen nennen gehört und wolle sich melden. Es war nicht der junge, quicke Mensch, auf den sich meine Erinnerung richtete, sondern eine ruhige, sehr
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