Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
langsame Stimme, aus der zu hören war, daß sich sein passiver, ruhiger Zustand der nicht geglückten Rekonvaleszenz nicht geändert hatte. Obwohl es derselbe Körper war, konnte ich die Empfindungen sowenig wiederherstellen wie damals nach dem Sturz. Das Gefühl der Zuwendung ist ungerecht, es wird nur einmal vergeben und ist nach einer solchen Veränderung nicht übertragbar.
Eiliger Moment
Voll von Terminen lagen die nächsten sechs Wochen vor ihr. Bis zum Winter wollte sie ihr Filmvorhaben durchführen. Mit Wehmut blickte sie auf das Kind ihrer Cousine, das mit Haut und Knochen der gemeinsamen Vorfahren durch das Zimmer krabbelte. Sie hätte gern viel Zeit mit der ein Jahr alten Kreatur verbracht. Sie hielt das davonstrebende Wesen an einer Schlaufe fest, die am Rückenteil seiner Bekleidung angebracht war, und genoß die sofort einsetzende heftige Bemühung dieses lebendigen Junggeistes, das ihm unerklärliche Hemmnis durch verstärkte Anstrengung zu überwinden. Was wollte das Kind unbedingt auf der anderen Seite des Raumes? Die Besucherin nahm an (aber sie war eilig, hatte nicht die Zeit für lange Beobachtungen), daß das Kind kein Ziel habe, sondern sich lediglich um jeden Preis bewegen wolle.
Sie wußte, daß sie sich beeilen mußte in den nächsten Jahren, eine Zeit zu erwischen, die ärmer an Terminen wäre als die jetzige, in der sie selbst Nachkommen haben könnte. Ihr eigener Abkömmling wäre dann vierzig Jahre alt, wenn ihr Leben sich seinem Ende näherte; ihr Kind konnte sie dann bereits zur Großmutter gemacht haben, die auf die bewegten Jungmuskeln ihres Enkels ebenso herabsähe, wie sie es jetzt mit Blick auf ihre sehr junge Verwandte tat. Inzwischen wartete das Taxi schon vor der Tür.
Ein von allen geliebtes Erstgeborenes
Tag der Arbeit. Brückentag. Frühstück mit Kind. Zieht sich hin.
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Ist das Ihr Erster?
Das sieht man doch.
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Man sieht es daran, daß das Kind undiszipliniert mit dem Löffel auf dem Tisch herumhaut. Schwiegermutter und Ehemann bringen die verletzlichen Gegenstände, den Eierbecher, die Tassen und Teller, außer Reichweite. Die junge Mutter setzt sich nicht durch. Jeder der Liebenden hat eine andere Vorstellung davon, was dem Kind guttut. Wenn die Frau ihr drittes hat, wird sie auch bestimmen können, wie es an die Welt gewöhnt wird.
Der eine will, daß das Kind spielt, der andere, daß es zuhört. Einer bietet ihm ein Stück Zucker an, den wischt das Kind vom Tisch, ohne gekostet zu haben: Das gar nicht! Die Minuten reichen nicht aus für den Eifer, mit dem man dem Kind Gutes erweisen will, auszuprobieren, was man mit ihm experimentieren kann.
Die junge Mutter vertraut auf die an sich träge Natur, die den Charakteren in ihrer Familie mitgegeben ist. Das Kind wird die Attacken überstehen, meint sie. Besser wäre es, wenn auf eine Regung des Kindes nicht sechs Antworten kämen. Jetzt ist die Schwester der Schwiegermutter hinzugekommen, auch sie vernarrt in den Blondschopf. Heute, am Tag der Arbeit, ist einfach zuviel Energie im Raum für ein einzelnes Kind.
Kalte Ente Freitag abend
1937 setzte man eine kalte Ente am Vortag an mit Pfirsichen und Moselwein, die mindestens 18 Stunden aufeinander einwirken konnten. Auf diesen Grundstock gab man während der Gesellschaft selbst bis 24 Uhr exzellenten Wein. Die Grundmischung wurde durch die Zugabe in ihrer dichten Qualität gemindert, aber auch, vom Wein her betrachtet, veredelt. Dann wurden nach Mitternacht billige Weine hinzugeschüttet. Die Bowle wird ab zwei Uhr nachts nur noch zum Durstlöschen getrunken. Der gemeinsame Alkoholspiegel der Gesellschaft läßt sich kaum steigern. Es gibt keinen Komparativ zur Vergnügtheit von einem bestimmten Niveau fortgeschrittener Nachtzeit und gemeinsamer Einstimmung an. Man könnte raus in den Schnee und wieder rein in die Wärme üben. Man könnte sich niederlassen und an Ort und Stelle einschlafen, stets in der Nähe der anderen. Nur ein Brand des Hauses oder ein Alarmruf (Notruf zu einem Patienten der unabweisbaren Gesellschaftsschicht) könnte noch zusätzliche Lebenskräfte und besondere Initiativen aktivieren. In diesem Zustand ist ein guter Mosel, mit dem der ursprüngliche Sud der kalten Ente angesetzt war, reine Verschwendung. Das Getränk wird mit Eiswürfeln versetzt, ist aber um drei Uhr nachts bloß eine lauwarme Lauge.
Keine Freiheit für den Hirtenhund
Eine Frau mit großem Hirtenhund kommt zum Brotladen. Der Hund will, nach seiner Gewohnheit, auf der
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