Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Atommüllbeseitigung wie gute Buchhalter begleiteten, auf eine merkwürdige Erscheinung. Der Schatz an atomarem Abfall hatte offenbar im Gestein des prähistorischen Gebirges eingeschlossene als ausgestorben geltende Archäobakterien zum Leben erweckt. Über eine Entfernung von 60 Kilometern waren sie in nur zwei Jahren durch das Gestein bis zu den Abfällen gewandert. Sie hatten die Betonhülle des Depots und die darunter verwahrten Schutzgefäße aus Stahl und Kupfer durchstoßen oder durchfressen, nur um an die Energiequelle zu gelangen, von der sie einst im Erdinnern (als sie im Fels noch stärker wirkte) gelebt hatten. Im Atommüll siedelten sie jetzt, entwickelten eine unaufhaltsame Lebenskraft. Die Forscher fragten sich, ob sie, beim Attraktor angelangt, sich maßlos vermehren würden. Das schien nicht der Fall zu sein. An die ihnen gewohnte Energiequelle angeschlossen, also satt, blieben sie vor Ort.
Die Zeitschrift Nature nahm den Artikel der Forscher nicht an. Die Redakteure stießen sich an der These, daß die Archäobakterien eine Strecke von sechzig Kilometern zurückgelegt hätten. Woher wußten die Forscher, daß es sich bei den Objekten, die sie im Gebirge tief unter dem Boden quasi als tote Materie entdeckt und dann als Radioaktivitätsverzehrer im atomaren Abfall wiedergefunden hatten, um dieselben Mikroben handelte? Da müsse erst noch weitergeforscht werden. Ungenügend erforscht seien auch die Folgen der Entdeckung. Es könnte ja sein, schrieb einer der Gutachter, von deren Votum die Publikation in Nature abhängt, daß nach Erschöpfung der atomaren Quelle, an der sich die Gäste niedergelassen hatten, die alte Gier erneut ausbreche, eine Selektion innerhalb der offenbar mutierten Gemeinde einsetze und sich diese riskanten Lebewesen, kontaminiert, wie sie waren, wie die Heuschrecken auf erneute Wanderzüge begeben würden, angezogen von Kraftwerken, deren bauliche Verteidigung ihnen nichts entgegensetzen könnte, wenn sie nur massenhaft genug vor diesen Burgen erschienen.
Witzlaffs Katastrophentheorie
Der Katastrophentheoretiker Freddy Witzlaff, ehemals Stanford, jetzt verschlagen nach Akademgorodok, ist ein Fernforscher. Nirgends muß er hinfahren und Nachschau halten. Seine Daten prüft er und »weiß« (ähnlich einer weisen Frau, die in einem Hexensud liest) aufgrund seines kassandrischen Geistes, wo das nächste Schreckensregime der Natur zu erwarten ist. Daß die Ereignisse in der vorhergesagten Art eintreten werden, ist hierbei gewiß. Nur Ort, Zeitpunkt und nähere Umstände bleiben unscharf. So hat dieser »Seher«, gemessen an der Relevanz seiner Voraussagen, eine ganz geringe Anhängerschaft. Die Mehrzahl der Kollegen hält ihn für eine Nervensäge.
Die Katastrophenkette, die in Japan eintrat, hatte er kürzlich korrekt vorhergesagt. Allerdings nicht in dem Szenario, welches das ferne Inselreich traf, sondern für Istanbul sowie das ein wenig nördlich davon liegende bulgarische Kernkraftwerk. Diese Katastrophe hatte er vor seinem geistigen Auge gesehen. Die Reibung zweier Kontinentalplatten verursacht nämlich seit 3000 Jahren eine eruptive Zone vor jener Landnase, die Europa und Asien am Marmarameer trennt. Die Erdbeben nähern sich kontinuierlich der türkischen Metropole. Die in der Meerestiefe ausgelöste Flutwelle, eine entfernte Verwandte der einstigen Sintflut, wird zwingend den von Anfang an mangelhaft errichteten Baukörper des noch von sowjetischen Ingenieuren errichteten AKW in Kosloduj zerstören, so Witzlaff. Von funktionierenden Kühlsystemen könnte in diesem Fall dort keine Rede sein. Jetzt, fährt Witzlaff in seiner Skizze fort, kommt alles auf die Windrichtung an. Vorherrschend ist der Boreas, ein Wind, der von Norden nach Südosten weht und mit der ausgeworfenen Strahlungsmenge die Siedlungsfläche am Bosporus kontaminiert. Die Unglücksstadt wird zuvor durch das Erdbeben verwüstet sein. Sie wird durch Zusammenbruch der Infrastruktur wie durch Sprengbomben vorbereitet auf das folgende Fiasko. Witzlaff konnte ausschließen, daß die Natur in einem solchen Fall irgendeine Nachgiebigkeit zeigen würde.
Dieses PANORAMA OHNE KOMPROMISS schien den Kollegen in Genf, Wisconsin, Dakar und Shanghai, mit denen Witzlaff Mails austauschte, geradezu widerlegt durch die Ereignisse in Fukushima, die ja gerade nicht in Istanbul und am Schwarzen Meer eingetreten waren. Gegenüber solchem Irrglauben konnte Witzlaff, der Statistiker war, geradezu rechthaberisch werden. Man kann
Weitere Kostenlose Bücher