Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
am Abgrund
Am 11. März 2011, als aus Japan die Meldungen vom Erdbeben nach Europa gelangten, entschied sich am Südtessiner Aussichtsberg MONTE GENEROSO , wie Peter Jankowski berichtet, das Geschick eines Hotelrestaurants. Von diesem Restaurant aus sieht der Gast, der das 1650 Meter hoch gelegene Hotel über eine Seilbahn erreicht, bei einem Kaffee, der nur in Kännchen ausgeschenkt wird, weit in Italiens Ebenen hinein. Der Kalkstein unter der Terrasse dieses Hotels enthält etwa 70 Höhlen, einige davon stammen noch aus der Eiszeit. Diese Hohlräume können zu einem Einsturz der Fundamente des Hotelbaus führen und haben bereits Risse bewirkt und eine Senkung aller Bauelemente um 10 Zentimeter. Stützpfeiler des Hauses zeigten sich verkrümmt. Durch ein langdauerndes Quietschen und Ächzen ließ der Berg von sich hören. Sogleich wurde neben der Bergbahn ein provisorischer Aussichtsturm aus Holz als Ausweichziel für die Touristen eröffnet. Hotel und Restaurant wurden geschlossen.
Nun aber haben Geologie- und Statikexperten ein Gutachten verfaßt, welches feststellt, daß das RESTRISIKO doch gering sei. Das Gebäude werde um einen geringen Betrag rutschen können, aber den Abgrund nicht erreichen. Es wird empfohlen, das Übernachten in diesem Hotel zu verbieten, aber ab April die Fernsichtwilligen wieder zuzulassen. Auch könnten sie bewirtet werden, wenn sie nicht tanzen.
Eine junge Assistentin befragt Talcott Parsons in Heidelberg
Die Reinigungskommandos waren von 7 Uhr früh an tätig. An der Lautsprecher- und Beleuchtungsanlage des Tagungsraumes wurde noch bis 8 Uhr repariert. Den Gast aus den USA quälte Bettflucht. Er war schon in den Tagungsraum vorgedrungen, auf die Podiumsbühne hinaufgestiegen, hatte »probegesessen«. Stunden später hörte er die Ansprachen zum 50. Jahrestag seiner Promotion. Er hielt sodann die Dankrede ohne irgendeine waghalsige Behauptung in Anwesenheit der geladenen Prominenz.
In der Öffentlichkeit der USA war es zu jener Zeit um Talcott Parsons, den amerikanischen Gast, ruhig geworden. Es war sein letztes Lebensjahr. Hier aber, in Europa, wurde er hofiert. Die Repräsentanten der Systemtheorie nahmen ihn zum Eideshelfer. Die Kritische Theorie respektierte ihn. Auf seinen Beinen konnte er nicht mehr lange stehen. Auch langes Sitzen begann ihn zu quälen. Zwischendurch lief er zurück ins Hotel, erfrischte sich, wechselte das Hemd. Andererseits fühlte er sich an diesem Tage nicht ausgeschöpft. Er wußte anderes als das zu sagen, was er vortrug.
In einer der vorderen Reihen der Veranstaltung saß eine Universitätsassistentin unbefugt auf dem Sitz eines prominenten Hochschullehrers, der nicht erschienen war, in einem kurzen schwarzen Kleid. Mit ihrem Universitätslehrer hatte sie bis vor kurzem ein Verhältnis unterhalten und war dann, als dessen Ehefrau intervenierte, zurückgestuft worden, sichtbar für alle Zeitzeugen und Seminarteilnehmer. Sie fühlte sich verraten.
Zum Ausgleich hatte sie jetzt für eine Vierteljahrszeitschrift die Berichterstattung für diese Veranstaltung übernommen. War sie in der Liebe gescheitert, wollte sie der Karriere etwas Gutes tun. Es war aber bis dahin nichts geschehen, was einen Bericht lohnte. Es genügte nicht, die berühmten Namen aufzuzählen, welche die Veranstaltung bevölkerten. Zweikämpfe fanden nicht statt. Ein Treibhaus für neue Ideen war nicht eingerichtet. Als es schon dämmerte (jetzt traten die Qualitäten der frühmorgens reparierten Saalbeleuchtung hervor), schnappte sie sich den auf einer der Seitenbänke lungernden Parsons. Sie hatte sich entschlossen, ihn zu befragen. Glücklich war der Mann, daß einer etwas von ihm wissen wollte. Er war ja voll plastischer Vorstellungen.
Er begann zu sprechen von den vier Medien der Kommunikation (oder des Wertetausches):
WAHRHEIT
LIEBE
GELD
MACHT.
Verkauft eine Kirche Ablaß, wird sie also im Medium der Wahrheit mißbraucht, verliert sie ihre Macht. Länger unterhielten sich die beiden (und Andrea schrieb ostentativ in ihr Heft, ohne den Mann viel anzublicken, gerade, daß sie ihn durch Fragen in Gang hielt, sie wollte keinen Flirt aufkommen lassen) über Verdis La Traviata , eine Frau, die nicht in das Reich der Liebe eingelassen wurde, obwohl sie dem Gelderwerb abschwor.
Entstehen an der Grenzlinie der Unvereinbarkeiten Ihrer vier Medien neue Medien, Mächte oder Lebewesen? fragte sie. Geld und Macht: als Hybrid die Staatswirtschaft, der Faschismus? Davon wollte Parsons
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