Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
war. Max Webers Pathos ist es, keinen dieser Sprecher auszugrenzen. Er legte durch seine Haltung dar, daß er vertrauenswürdige Vorfahren über 400 Jahre in sich vorhanden wußte.
Hatte er solche Gesellschaft verlassen, war er allein mit sich und seinem Denkvermögen (einer Ein-Mann-Fabrik), verschwamm der Zusammenhang. Eine Art von Traumgebilde, eine Parallelwelt künftiger und längst vergangener Geschehnisse konkurrierte mit der Ökonomie, den Märkten, die so offensichtlich auch Gewalt über die Seelen besaßen. Gewalt über die Seelen besaßen aber vor allem die Parallelwelten des Ungeschehenen. In einer solchen Parallelwelt wurde für eine NEUE WIRKLICHKEIT mit härterer Währung gezahlt als auf den Märkten.
In Dollar oder Schweizer Franken war nichts davon konvertierbar. Dieser große Soziologe sah zwei, ja sechs CHIMÄRISCHE REALITÄTEN , die wie Monster miteinander zu kämpfen begannen. Sie schienen ihm nicht realitätshaltig genug, um als »Platzhalter der Realität« länger als zehn oder zwölf Jahre auftreten zu können. Daneben die Realität selbst, wie sie zum Beispiel der Ökonomie zugrunde liegt (nichts in dieser Ökonomie konnte wirklich funktionieren ohne Zauberei, und die kam daher aus der Parallelwelt), aber diese, so wie sie in Mitteleuropa über 600 Jahre hin entstanden war, erschien Menschen nicht als realistisch. Die heutigen würden sie zu modellieren versuchen. Und dazu hatten sie zum Motiv nichts als ihren Mut, den Willen der Vorfahren (den sie ahnten oder mißdeuteten) und ihre Kampfbereitschaft. »Nutzlos wollen sie nicht sein.« Sie würden die Verlierer sein, dachte Weber, wenn sie das einzusetzen wagen, was sie glauben zur Verfügung zu haben. Der große Mann war unruhig.
Es war nötig, wie ein gesellschaftlicher Geograph das Gefälle dieser Strömung, die Gefährlichkeit dieses Ungeheuers, seine machtvolle Produktivität ausführlich zu beschreiben. Was doch nicht gelingt, wenn man nur schreibt. Man braucht eine Generationenfolge von Gelehrten und Forschern, die einander wie eine Stafette ablösen über mehr als 400 Jahre hin, um, wie es die Philosophen in Platons Staat tun sollen, aber eben eminent praktischer aus der Kenntnis des Jahres 1920 oder 1912, diese Entwicklung zu begleiten: Reiter sein auf dem Rücken des Behemoth.
Es ist nicht einfach, die Stellen des Ungeheuers auszuforschen, an denen es auf »Zeichen« reagiert. Unsäglich die Herausforderung, daß ein einsamer Gelehrter mit einer solchen ARBEIT umgeht (vielleicht hat er 17 Freunde, darunter sind schon die beiden Frauen mitgezählt, mit denen er lebt). Max Weber ist ja kein Realitätsstifter. Forschung, also Unterscheidungsvermögen, ist nicht in einzelne Glaubenssätze aufzulösen: »Ich trenne mich vom Falschen, befolge das Richtige, trenne es wiederum in zwei Linien auf« (und das ist nur die eine Ebene des Durchführbaren). Obwohl der Aufklärungsglaube einfache Haltungen zur Verfügung stellt, die ich ebenso wie eine Glaubensgewißheit um keinen Preis der Welt für verkäuflich ansehe. An dieser Stelle sieht Max Weber seinen Anker, während allerdings der Körper ihm schon nicht mehr gehorcht. Sucht er das Bett um 8 Uhr abends auf, erwacht er um zehn Uhr früh unerquickt. Es treibt ihn aber schon mittags der Gewissensanstoß, er wisse etwas, also seine Erfahrung habe eine bestimmte Gestalt, die der Mitteilung harrt: in den Jahren der Verwirrung.
Matschmasse
Die Wassermassen an Chiles Küste kamen nicht als Flutwelle, nicht als Regenströme, sondern längere Zeit nach den gewalttätigen Niederschlägen von der Landseite her als Schlammflut. Man konnte darin nicht schwimmen und nicht tauchen, auch nicht fliehen. Es war nichts Gutes verborgen in dieser Matschmasse, die von Gott oder den Göttern verlassen war. Die Sintflut funktioniert anders. Es war wenige Tage vor Heiligabend, die Zeit, in der El Niño gewöhnlich zuschlägt. → Weihnachten als rächende Gewalt, Chronik der Gefühle , Band II , S. 979.
Abb.: Ausrüstung für Kämpfer gegen die Schlammlawine.
Sich entzündender Konfliktpunkt, der 2030 gefährlich werden kann
Am gestrigen Tage stießen im Meer über den Schelf-Ausläufern der Spratly-Inseln in der chinesischen See Forschungsschiffe der Republik Vietnam auf chinesische Fischerboote, welche die Weiterfahrt behinderten. Es wurden wechselseitig Kleinkaliberwaffen vorgezeigt. Die Spratly-Inseln werden von China, Vietnam und den Philippinen beansprucht. Als provokativ bezeichnet das
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