Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

chinesische Außenamt den Hinweis aus Vietnam, ein Eingriff oder eine Schlichtung durch die USA in dieser Streitfrage seien willkommen.
    Vietnams Forschungsschiffe vermessen den Verlauf eines Unterwasserhöhengeländes, das von Vietnam in Richtung dieser Inseln ausgeht. Gesucht wird nach einem zusammenhängenden Höhenkamm, aus dem ein Besitzanspruch folgen würde.
Porträt einer Seelenstörung
    Als es Rom gelungen war, sich unangreifbar zu machen (zunächst eine Einbildung, dann eine Tatsache), verwandelte sich alles in der Welt in ein Instrument zur Erhaltung Roms. Auf die gleiche imperiale Art forschte Newton in seinen Laboratorien. Er stellte sich (selbst unangreifbar) den zu erforschenden Dingen gegenüber (gerade daß er auf Lebendversuche an Menschen verzichtete) und zwang den Stoffen ihre Geständnisse ab, ja, er ließ sich von ihnen nachts Gehorsam schwören.
    Diese Herrschaft des Subjekts über die Objekte blieb in den Kasernen der Wissenschaft zunächst für die Öffentlichkeit ungefährlich, sofern nicht gelegentlich eine dieser Forschungsstätten explodierte. Dann aber brach die römisch-newtonsche Versuchsanordnung aus ihren Werkstätten aus. Mit der INDUSTRIELLEN REVOLUTION gelangte sie in den FREILANDVERSUCH . Noch immer stehen die Naturwissenschaften, als seien sie ein Denkmal Newtons, der zu beherrschenden Welt der Stoffe (»der beforschten Maus«) gegenüber. Neueste Vorschläge richten sich darauf, den subjektiven Geist, der um 1799 noch in einem Zimmer saß und DACHTE , in die Avantgarde der Forschung einzubetten. Der Intellektuelle gehört in den Stoßtrupp, in die Sturmtruppe des römisch-newtonschen Fortschritts, heißt es bei Luc Boltanski.
Schmerzfreier Tod
    Haben Sie dem chemischen Tod von Insekten schon einmal zugesehen? Einem Langzeit-Tod? Sie meinen, daß Insekten kein Erinnerungsvermögen haben? Schmerz aber besteht aus der Vorausahnung des unerträglichen Moments, der noch kommen wird? Wieviel Prozent Irrtumswahrscheinlichkeit geben Sie Ihrer Ansicht?
    Schrecklich, das versichere ich Ihnen, ist der durch Hormonsprühwolken induzierte Atemtod. Unter Nutzung der instinktgesicherten Bahnungen der Insekten – nach den Forschungen von Butenandt – werden sie zum Flug in die Wüste getrieben, wo die Wolken von Lebewesen in einer Schleife einige Zeit lang irr umherfliegen. Sie suchen eine Bahnung, für die ihre instinktgeleitete Ausstattung nicht taugt. Ihre Flügel verbrennen in dem immerwährenden Strahl der Sonne. Sie sind auf die falsche Seite des Planeten geraten. Ein lange hingezogener Tod in Unwirklichkeit.
    Da ist das von mir entwickelte ELEKTRISCHE DRAHTGITTER »humaner«. Vor allem ist es effektiv. Ich arbeite im Auftrag der Behörden in Sinkiang. Nicht nur in Afrika, sondern auch hier bin ich Berater. Zunächst (zur Vorbereitung) geht es um die Versammlung von Entenscharen, die Umleitung von Zugvögeln. Sie vertilgen die Larven der Heuschrecken. Zusätzlich gibt es dann tragbare Drahtgitter auf der Grundlage meiner Patente. Die dortigen Hirten, auch schwarze Schulklassen, tragen diese Drahtgitter durch das Gelände. Vor allem durch die Gebiete, in denen die Larven siedeln. Die springen empor, sobald sie die elektrische Gefährdung spüren, und sie springen dadurch genau in die Drahtgitter und werden durch elektrischen Schlag geröstet.
    Was bedeutet das für Ihre Empfindung? werde ich gefragt. Es bedeutet erfolgreiche Tätigkeit. Glauben Sie, daß die Maßnahme die Tiere schmerzt? Das glaube ich nicht, sofern der Schock (gemeint ist der Tod) kurzfristig stattfindet. Dagegen wären alle Verfahren, die meinem Patent entgegenstehen, mit einem langwierigen Tod verknüpft, den ich als Schmerz bezeichnen würde.
Ein fernes Blinkzeichen von Thomas Robert Malthus
    Um die gesamte Bevölkerung der Erde so verschwenderisch zu ernähren wie die Einwohner von Groß-London, behauptet der Evolutionsbiologe Douglas Ferris, müßte man den Planeten Erde zweimal haben. Das sei, erwiderte der Ökologe Palmerston, die typische Aussage eines Malthusianers. Der Brite Malthus hatte vor der Industriellen Revolution, welche seine Beobachtungen und Daten beiseite räumte, darauf hingewiesen, daß sich die Weltbevölkerung asymmetrisch zu den Lebensressourcen, die der Erde abgetrotzt werden könnten, vermehre und so Hungersnot und politische Katastrophen mit Gewißheit zu erwarten seien. Auf die Kassandra wurde seinerzeit nicht gehört. Malthus wurde von den tonangebenden Geistern beiseite gestellt. Man