Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
sie seien Betrüger, wenn sie die unbekannte Wasserleiche als Bin Laden deklarierten und so den Wert des Toten durch eine erzählbare Geschichte steigerten. Tatsächlich lieferten sie authentische Ware, die im Auftrag einer japanischen Bank für deren Tiefenkellertresore gekauft wurde.
Sie war kein Kunstobjekt und hatte doch eine »Alleinstellung«. Künstler war hier der ZUFALL , DER DIE ERDE REGIERT , so Bernd Graff. Vertreten durch die neugierigen Delphine, aber auch durch den in das Dasein eingekerbten Grundsatz Gottes, daß Märtyrer »auf den Schwingen des Unwahrscheinlichen in die Runde blicken«.
Das unsichtbare Bild der Sintflut
Mit seiner jungen Geliebten besichtigte der Paläogeologe Fredy Smith-Steiner zunächst das Ausgrabungsgelände von Troja. Die Steinbrocken sagten ihm nichts, sie waren zu jung. Man sah aber vom Küstengebirge, das mit einer Kleinbahn zu erreichen war, in der Ferne die Dardanellen und den Eingang zum Marmarameer. Vor dem geistigen Auge des Wissenschaftlers (was er erklärte, konnte die willige Gefährtin, der er gern gefallen hätte, nicht sehen) lag die archaische Bergkette, die vor Äonen Anatolien und Europa verbunden hatte und inzwischen versunken war. Das Mittelmeer hatte sich damals vom Atlantik her wieder einmal mit Salzwasser aufgefüllt. Sein Wasserspiegel lag um sieben Meter höher als der Süßwassersee, der einen Teil der Fläche des heutigen Schwarzen Meers ausmacht, jenseits der archaischen Bergkette.
Dieselbe Reibung der anatolischen Platte an ihrem Gegenüber, die heute Istanbul bedroht, zerriß in jener Zeit, lange vor Trojas Untergang, die Gebirgskette und öffnete den Fluten des Mittelmeers den Weg nach Norden. Die Salzwassermasse wölbte sich über den Süßwassersee und überschwemmte, ähnlich einem Tsunami, die Ebenen, die heute Rumänien, die Krim und die Ukraine heißen. Das war (damit beeindruckte der alte Mann seine junge Geliebte) die SINTFLUT , von der noch heute die Menschen an der Küste des Schwarzen Meers bis weit ins Landesinnere erzählen.
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Unter dem Schwarzen Meer oder in seinem »Inneren« gibt es immer noch den Süßwassersee, sozusagen unterseeisch?
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Der Gelehrte freute sich sehr über die Frage: Der Forschungsgegenstand, der ihn beschäftigte, und die Frau, mit der er über einen Altersunterschied von 48 Jahren hinweg einen Lebensbund schmieden wollte (daher die Reise an den Bosporus), nahmen miteinander Verbindung auf. Seine Zuwendung war unteilbar und galt doch beiden: den Berichten aus alten Zeiten und dem jungen Lebewesen, so ungleich sie auch waren.
Die Paläogeologen arbeiteten inzwischen mit linguistischen Komparatisten zusammen. Nicht die Steine und Schichtungen des Bodens geben über die Sintflut Auskunft, sondern vor allem die autochthonen Erzählungen, vor allem Trauer- und Heldenepen, schildern die Vorgänge vor 5000 Jahren mit großer Genauigkeit. Die Sintflut war nicht als Auslöschung des Lebens oder dessen Gefährdung erlebt worden, welcher nur ein einzelnes Schiff entrann, sondern das Ereignis hat, wie es der Kollege Haarmann in Helsinki formulierte, die Menschheit erst erschaffen. Auf die Not hatten die Vorfahren Antworten gefunden. Mit diesem Wissen zogen sie später nach Mesopotamien, erfahren darin, wie man mit der Natur umgeht, wenn sie außer Rand und Band gerät. In Erinnerung an die unbezähmbare Flut bauten sie Wasserstraßen und Kanäle. Sie bewegten sich künftig auf dem Land so, als bestünde es überall (und nicht nur an der Küste und bei Sturmflut) aus Wasser.
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Die Revolution ist ein Lebewesen voller Überraschungen
Grüne Hügel von Chengde
250 Kilometer nördlich oder acht Tagesreisen von Peking entfernt befanden sich zu der Zeit, in der J. W. Goethe innig an China dachte, also noch im Jahre 1812, laubgekrönte Bergwälder. An ihrem Fuße, mit den Gärten in die Täler des Bergwaldes vordringend, befand sich die Sommerresidenz des Kaisers. Der Ort hieß Chengde. Die Residenz geriet in Verruf, als der Kaiser 1820 vom Blitz erschlagen wurde. Wenige Jahre später wurde ein anderer Kaiser in diese Residenz verschlagen. Durch Krankheit kam er um. Seither verfielen die Bauten. Kein Astrologe wagte den Platz zum BEGÜNSTIGTEN ORT zu erklären. Die Bäume wurden gefällt.
Heute, für Schatzsammler noch immer ein geeigneter Ort, ist der Palast verwüstet. Übrig blieb von dieser Zentrale Chinas das Dichterwort: AN DIE KÜHLEN GRÜNEN HÜGEL VON CHENGDE BRANDET DAS MEER DER HÜGEL CHINAS , UNBELAUBT .
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