Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
menschliches Vermögen? Deng glaubte das nicht. War der kapitalistische Sinn, der doch vorher noch nicht alle Provinzen Chinas ergriffen hatte, nach der Revolution von 1949 nur »in Schlummer versetzt«, von der sozialistischen Republik und der Kulturrevolution überlagert worden? Jetzt aber infolge der Anreize der wirtschaftlichen Öffnung aufgewacht, hatte er sich verstärkt und auch das erobert, was ihm vor 1949 noch versperrt war? Das Ganze war ohne Schulungskurse und ohne die Nutzung von Handbüchern in Gang gekommen. Es schien so, daß sich der Kapitalismus autopoietisch bewegt. Zuerst tritt er auf als ein Lehrmeister und dann als eine Ökonomie.
Was ist ein »Bauer der Bedürfnisse«?
Der Sozialismus der DDR war produktionsorientiert. Stets verbinden sich miteinander Produktion, Distribution und Konsumtion, heißt es in den Grundrissen von Marx: die Produktion als das Übergreifende. Die Börse und die Banken dagegen (als konsumtive und distributive Instanzen) hielt Marx nicht für etwas Reales.
Diese Auffassung der DDR -Ökonomie korrespondierte mit dem gärtnerischen Talent, dem Produzentenstolz, dem Sinn fürs Reparieren, der gegenseitigen Anerkennung, die Menschen einander aufgrund ihrer Arbeit und ihrer gelungenen Produkte in der DDR zollten. Weil aber für jedes dieser Fragmente im Menschen, welche auf die PRODUKTION ALS DAS ÜBERGREIFENDE antworten, auf dem Staatsgebiet der DDR ein Engpaß herrschte (abgesehen davon, was das Reparieren betrifft), kam es zur Krise, so der marxistische Ökonom Thomas Mälzer, Humboldt-Universität zu Berlin.
Der Gelehrte hatte schon im Sommer 1989, hellsichtig, begonnen, umzudenken. Es bildeten sich im Herbst studentische Ausschüsse. Mälzer attachierte ihnen Kurse unter dem Titel »Einführung in die kapitalistische Praxis«. Ein Kapitalist, so lehrte er, unterstützt von seinen Assistenten, ist ein »Bauer der Bedürfnisse«. Ein Bedürfnis ist »der Wille, etwas zu kaufen«. Diesen Willen muß er ernten. Er hat es aber schwer, wenn diese Bedürfnisse nicht schon vor seinem Auftritt auf den gesellschaftlichen Äckern gewachsen sind. Die Tätigkeit des Kapitalisten setzt eine kapitalistisch nicht herstellbare Vorarbeit voraus: Rodung des Waldes, Umgraben der Erde, Züchtung passender Samen. Diese Epoche haben unsere Vorfahren auf den realen Böden in großer Not erlebt, unter Vernichtung ganzer Generationen und manchmal erst im zweiten Schritt nach Auswanderung. Ist der Boden, also das System der Bedürfnisse, nicht bereits angelegt, wird die Gründergeneration der Kapitalisten scheitern. Es geht nicht um Ernte, sondern um Verkauf, so Mälzer. Hier nahm der Ökonom das Beispiel des fruchtbringenden Landregens zur Hilfe, um die Sache anschaulich zu machen. In der »kapitalistischen Natur«, einem Hybrid, handelt es sich um einen Regen, der vom Boden einen Gegenwert aufnimmt, sozusagen um einen Regen, der aufsteigt wie der Morgennebel und nicht wie eine Wolke herniederfällt.
Solche Vergleiche verwunderten die Kursteilnehmer sehr. Sie gehörten revolutionären Ausschüssen an, welche die Umwälzung der Republik vorbereiteten und betrieben, waren von Tagespolitik abgelenkt. Sie wollten Tabellen sehen, bezogen auf die »Einführung in die kapitalistische Praxis«. Die Regeln von Angebot und Nachfrage sollten in klare Sätze gefaßt sein: Sie wollten rasch Vokabeln erlernen, um mitreden zu können. Mälzers bedürfnisorientierter Methode warfen sie vor, sie sei abstrakt.
Das System der Bedürfnisse, das kein Einzelner sich einfach ausdenken könne (obwohl es in den Willenskräften aller Einzelner in Erscheinung trete), antwortete Mälzer, sei seiner Natur nach ein ABSTRAKTUM , weil einer sein Bedürfnis in der Regel nicht kennt oder nicht benennen kann, bevor er nicht ein Produkt gesehen hat, das es befriedigt. Diese Abstraktion, die dem Kauf entgegenwächst (»wie das Getreide dem Schnitter«), STEIGT AUF ZUR KONKRETION , aber gewiß nicht über den Händler, sondern im Sprung über den Erfinder, den Konstrukteur, den Leiter der Entwicklungsabteilung. Von dort wird das Bedürfnis zur Produktion. Das sind aber schon Tausende von Beziehungen und Tauschhandlungen, die ein einzelner Unternehmer nicht organisieren oder bezahlen könnte.
Es nutzte nichts: Die Kursteilnehmer, wache, aufgeweckte, politisch abgelenkte Geister, empfanden kein Vergnügen an der Lehre vom »Aufstieg von der Abstraktion zur Konkretion«. Sie kauften sich Repetitionskurse zur BWL . Im Dezember 1989
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