Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

ihren Arbeitsstätten. Eine Apotheke in einer Kleinstadt, die um 8 Uhr öffnet, zieht schon zwanzig Minuten zuvor die Rolläden hoch, um rechtzeitig bereit zu sein. Dafür schließen Abendveranstaltungen und Restaurants früher. Vom Fleiß dieser Einwohner lebt die Republik. Dagegen öffnen in der Hauptstadt die Läden generell spät. Zahlreiche Büros beginnen ihren Betrieb nicht vor 10 Uhr. Das resultiert aus den weiten Anfahrtswegen durch die Stadt, aber auch aus dem Konsens sehr verschiedener Biotope der Stadt, die sich nach der Wende herausgebildet und erhalten haben. Das BEFREITE OSTBERLIN ist nicht zu den strikten Frühzeiten der Dienste zurückgekehrt, die der Planwirtschaft entsprachen und die Läden zwangen, vor Produktionsbeginn die Versorgung zu gewährleisten. Von Beginn an waren das BEFREITE WESTBERLIN und die ZUWANDERER AUS DEM WESTEN an der metropolitanen Abendlust orientiert, die das frühe Aufstehen beeinträchtigt. Für große Städte zahlen (seit Mesopotamien) die Provinzen Steuern.
Verbindung zwischen zwei Zentren der Revolte
    Ein gewisser Jussuf Ben Abbas aus Benghasi hatte die »Wende«, die zunächst nicht das gesamte Land ergriff und statt dessen eine Wartezeit auslöste, schöpferisch genutzt, indem er herrenlose Autos, Gefechtsfahrzeuge und Beutepanzer, jeweils repariert, einsammelte und über Ägyptens Grenze nach Gaza schaffte. Rätselhaft, woher die Abnehmer in diesem Küstenland des Ostmittelmeers die Devisenbeträge zusammenbekamen: Die Altfahrzeuge wurden bezahlt. Sie waren atemberaubend preiswert. Jussufs Geschäfte testeten die Randzone des Unmöglichen. Die Folge einander ablösender Fahrer der Schrottrösser hätten, wären ihre Hirne leuchtende Girlanden gewesen, wochenlang eine Lichterkette gebildet zwischen der REVOLUTION OHNE SPEZIFISCHE IDEOLOGIE in der Rommel-Stadt Benghasi und der REVOLUTION IN ERWARTUNG EINES WUNDERS in der Kreuzritterstadt Gaza. Ideologische Kontakte zwischen Gaza und Benghasi wären am Unverständnis abgeblitzt, Handel stellte die Verbindung her. Die Transporte über eine so weite Strecke irritierten den israelischen Geheimdienst, der aber zuwenig ausgebildete Agenten für diese Weltzone besaß, um sich kundig zu machen. Auch der Mossad braucht für die Situation in Afrika neue Kämpfer, deren Umschulung sechs bis zwölf Wochen dauert, und dann werden immer noch keine Top-Agenten zur Verfügung stehen.
Können utopische Besitzansprüche Zauberkraft entfalten?
    Major Ibrahim Dschügül-Konrad, ein in der Wolle gefärbter Kemal-Atatürkist, hatte im Geheimdienst seines Landes die Zuständigkeit für den Gesamtbereich Libyen inne, ein Gebiet, das ehemals zum Osmanischen Reich gehört hatte. Wegen der Eilfertigkeit, mit welcher zunächst Frankreich und England und dann die NATO in Libyen Bombenangriffe durchführten, hatte er bei den entsprechenden Organisationen dort Protest erhoben, bis ihm die türkische Admiralität und die Luftwaffe einen Teil seiner geheimdienstlichen Allmacht abzwackten. Wer Atatürks Frühzeit kennt, sieht ihn auf Fotos mit Kameraden posieren in jener Zeit, als die Offiziere, die zur jungtürkischen Bewegung zählten, das Land gegen italienische Invasoren verteidigten. Insofern war Dschügül-Konrad der Meinung, die türkische Republik und nicht die NATO müsse ein UNO -Mandat erhalten und zwischen den Parteien des libyschen Bürgerkriegs vermitteln.
    Statt einen Festlandsockel gegenüber ionischen Inseln zu behaupten oder sich in Nordzypern zu streiten, bestünde die natürliche Expansion der Türkei in einer Übernahme Libyens als Protektorat, so Dschügül-Konrad. Die Zweiteilung des Landes, die bei anhaltendem Bürgerkrieg droht, wäre vermieden. Letztlich ist Ankara der legitime Nachfolger von Ostrom. Dieses wiederum Erbe des Römischen Reiches, zu dem Numidien und Libyen gehörten. Wer könne in Europas Auftrag die Friedensstiftung und das PRINZIP DER CLEMENTIA auf diesem Gelände besser zur Geltung bringen als die Türkei?
    Europa ist der antike Name einer kleinen Provinz direkt westlich von Konstantinopel. Dieses maßstäbliche Verhältnis hat sich nachhaltig verzerrt, so Dschügül-Konrads Auffassung. Die Wiederherstellung des Osmanischen Reiches würde Gegenwartsprobleme nicht nur in Libyen, sondern auch in Portugal lösen. Wir verfügen in unseren Archiven in Ankara, sagt Dschügül-Konrad, über die Akten des Kaisers Theodosius I., der das Reich noch bis in den atlantischen Westen regierte. Alle Ansprüche auf Herrschaft,