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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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war keine Zeit für Analyse. Es waren Monate der Tat. Mälzer mochte als erster angefangen haben; er gab sich unsägliche Mühe, jetzt rückte er in die zweite, vierte oder zwölfte Reihe der Wichtigkeiten.
Tze-fei begegnet einem Vers von Freiligrath
    Ein chinesischer Genosse, dessen Großvater in der Kulturrevolution auf einer der erzwungenen Wanderungen, mit denen der bürgerliche Anteil im Intellektuellen absorbiert werden sollte, umgekommen war und dessen Vater ihn in strenger Abneigung gegenüber allem, was von Mao Tse-tung ausging, erzogen hatte, war zuständig für das Referat »Revolution« im Nationalmuseum in Peking.

    Abb.: Polizeibeamte in Zivil vor der Halle des Volkes in Peking. →
    Bei seinen Forschungen stieß er wiederholt auf ihn fesselnde Texte in Maos Werk. Eine philologisch genauere Betrachtung zeigte, daß dieses Werk auch Fragmente anderer Autoren enthielt, von Theoretikern und Praktikern im Umfeld der Partei, die sich im Laufe der Zeit gesammelt hatten und in Mao Tse-tungs Gedanken (wie Plagiate ohne Fußnoten) eingebunden worden waren. Das schien Erfahrung zu enthalten, die in Chinas Gegenwart nicht aufging. Die Texte funkelten den Geschichtsarbeiter an, der Hong Tze-fei hieß. Ohnehin war er von Neugierde geplagt. Die akademistisch betriebene Theorie der Jetztzeit lag ihm nicht. Das war gefährlich für seine Karriere. Hielt er die von ihm gefundenen Texte gegen Texte aus Analysen, wie sie neuerdings an Eliteuniversitäten der USA und in Europa über den Begriff und die Metaphernwelt der REVOLUTION vorgelegt wurden, dann funkelte es wie in einer Kristallkugel, in der sich die Lichter kreuzen und an der ein Alchemist, wie er in chinesisch-leibnizianischer Gestalt in einer Nachbarabteilung des Nationalmuseums vorzeigbar war, seine Freude gehabt hätte. Tze-fei neigte zur ANREICHERUNG oder URSPRÜNGLICHEN ZÜNDUNG eines Begriffs: Das war sein Handwerkszeug. Man nimmt das Wort und fingiert, es habe zunächst keinen Inhalt. Man übersetzt dieses Wort in lebende und tote Sprachen und wartet auf die Differenz, die sich ergibt. Ein ähnliches Verfahren kann angewendet werden in vertikaler Richtung, wenn man den Begriff in zeitlicher Versetzung den Jahrhunderten und den Generationen, also 30-Jahres-Abschnitten, vorlegt. Tze-fei hatte noch eine Reihe an weiteren Sonden oder Angelgeräten im Sinn, wenn es um den Begriff der Revolution ging, der ihm ja amtlich anvertraut war.
    Zunächst, notierte er, gibt es auf der Spiegelungsfläche der Philologie, dem Lateinischen, Charakterisierungen der UNRUHE : discordia : Zwietracht, bellum civile : Bürgerkrieg, motus : Bewegung, vicissitudo : Wechsel. Dabei bleibt indifferent, gegen wen sich die Unruhe richtet. Die gewalttätige politische Unruhe, von oben nach unten betrachtet, hat andere Worte: tumultus , turba : Aufruhr, seditio : Empörung, coniuratio : Verschwörung, rebellio : Aufstand. Im Griechischen: stasis . Im Englischen: insurgency . Im Französischen: soulèvement, révolte . Im deutschen Bauernkrieg: »Empörung des gemeinen Mannes.« Dagegen ist ELEVATION ein Wunder, aber auch die Bezeichnung für Anti-Schwerkraft.
    Entzückt war Tze-fei von einem Vers von Freiligrath, einem bourgeoisen Revolutionsdichter von 1848 in Wien. Er spricht von der Revolution als einer allegorischen Kämpferin:
    ###
    »Sie spricht mit dreistem Prophezein /
    Ich war, ich bin, ich werde sein.«
Zwei Fernbeobachter der Revolution im Nahen Osten
    Inmitten des landwirtschaftlichen Gebietes der Magdeburger Börde und in der Nähe einer eingleisigen Bahnstrecke lebten zwei Oberste außer Dienst der ehemaligen Abteilung IX Gegenspionage aus der Hauptabteilung Aufklärung im MfS. Die Bahnstrecke, an der ihre Datschen lagen, war vor dem Zweiten Weltkrieg die zweigleisige D-Zug-Schnellstrecke Berlin–Frankfurt am Main gewesen, dann hatten die Russen 1946 einen der beiden Schienenstränge demontiert. Die Eisenteile lagerten noch immer in der Nähe von Witebsk.
    Die beiden Oberste waren für ihren einvernehmlichen Kommunikationsstil bekannt. Niemals unterbrach einer die Rede des anderen. Geriet aber einer ins Stocken, so führte der andere die Rede fort. Er hatte also, für Beobachter erkennbar, die ganze Zeit mitgedacht und mitformuliert, während er schwieg. Solche Bereitschaft zur Kooperation war verblüffend. Mochte der REALE SOZIALISMUS in der DDR nichts Produktives hervorgebracht haben – zumindest nach den Analysen führender Marktforschungsinstitute –, so war doch diese

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