Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
Vom Netzwerk:
und Zelte gab es im gesamten Inselreich nicht. Sind denn dazu überhaupt Rechnungen angestellt worden? fragte der phantasiebegabte Direktor aus dem Finanzministerium, das zentral für die Körperschaftssteuer in ganz Japan weisungsberechtigt war.
    Das Problem der Masse liegt darin, daß man mit Menschenzahlen in solcher Dimension nur umgehen kann mit Hilfe von Gefäßen, in denen sie sich organisieren: Bezirke, Stadtviertel, Reviere, Busladungen. Ohne Ort, Bewegungsimpuls (den der Eigenwille der Einzelnen unbeirrbar festlegt) und Zeitpunkt ist die Masse abstrakt. Unregierbar? Oder gar nicht existent? Nein, sie ist höchst substantiell, aber dennoch unwirklich. Was verstehen Sie unter unwirklich? Ohne Platz in dieser Welt.
    Wie monströse Würmer würden die Kolonnen von Fahrzeugen und Flüchtenden auf den Ausfallstraßen jeden Ausweg versperren, meinte der Verteidigungsminister. Die 260 km U-Bahn-Tunnel und deren Hochtrassen kommen als Fluchtwege ebensowenig in Betracht, weil sie sich sogleich verstopfen, ergänzte der Finanzexperte. Man muß eine solche Massenflucht um jeden Preis vermeiden! Und das durch Verbote oder Nachrichtensperre zu erreichen ist ein aussichtsloses Unternehmen. Man braucht einen alternativen Fluchtweg, um einen Fluchtweg zu versperren. Das wußte der Amtsleiter für Versicherungshandbücher noch aus Kriegsberichten des Zweiten Weltkriegs.
Ein Bürgermeister von Tokio
    Wo Shintarō Ishihara mit seinem Schweif von Mitarbeitern und Polizeibeamten seine Bahn zog, breitete sich eine Empfindung von »Öffentlichkeit« aus, ein Lichteinfall in den düsteren Tag. Am frühen Donnerstag hatte der Gouverneur der Hauptstadtpräfektur Tokio, landläufig Bürgermeister genannt, dem Sprecher des Kabinetts die Aufmerksamkeit der Nation streitig gemacht. Ishihara hatte vor TV -Kameras erklärt, daß die Meßwerte der Radioaktivität für Tokio künftig in eigener kommunaler Autorität festgestellt würden und daß sie in dieser Form ohne Einschränkung zu veröffentlichen seien. Zensur kann es in einer solch lebensbedrohlichen Angelegenheit nicht geben, sagte er. Er stellte es so dar, als seien die von der Regierung publizierten Daten manipuliert. Wie es seinem Charakter entsprach, blickte er über den Tag hinaus. Er sah auf die bevorstehenden Wahlen für das Amt des Bürgermeisters im nächsten Monat, also auf Ende April. Diese Wahlen konnte er aufgrund der tragischen Ereignisse und seiner führenden Rolle in solcher Not bereits nicht mehr verlieren. Es ging an diesem Tag nur noch um den Unterschied zwischen »Sieg« und »Erdrutschsieg«.
Evakuierung einer Metropole
    Es ist ein Irrtum, behauptete einer der 150 Experten, welche die USA für den Transport nach Japan bereitgestellt hatten und die in Hotels in Illinois derzeit warteten, daß man eine Metropole wie Tokio nicht evakuieren könne, nur weil die Statistik deren Einzugsbereich samt Vorstädten auf 37 Millionen Menschen beziffert. James Miller war BEVÖLKERUNGSUMSETZUNGSSPEZIALIST , nicht Kernkraftphysiker. Die Transplantation großer Menschenmengen von dem einen zu einem anderen Ort bezeichnete er aber (in Übereinstimmung mit Kollegen) als zur Physik gehörend, nämlich zur Lehre von den realen Körpern in Zeit und Raum; im Gegensatz zu den Büchern des Aristoteles, die auf die Bücher von der Physik folgen und von der Metaphysik handeln.
    Selbstverständlich können Sie die Gesamtzahl von 37 Millionen Menschen weder auf kurzer noch auf langer Strecke bewegen. Das ist aber auch nicht notwendig, wenn, wie angenommen wird, der Wind von Fukushima, statt in Richtung Meer zu wehen, sich nach Süden wendet und somit Tokio bedroht. Die 37 Millionen Menschen leben nicht im Zentrum der Stadt. Man wird also mit der Evakuierung der nördlichen Vororte beginnen. Sie sehen auf den Tabellen hier, wie sich die Zahl verringert.
    Und wo sollen die Millionen, aufgeteilt in handhabbare Einheiten, immer unterstellt, daß die Menschen die Transportwege nicht in Panik verstopfen oder einfach nicht gehorchen, am Ende hingebracht werden? Es sind Großstädter, Mr. Miller. Sie verstehen es nicht, auf dem Land zu leben. Das konnte der Experte nicht auf Anhieb beantworten. Er wußte nur, wie man zunächst eine absurd große Menge mathematisch und dann praktisch auf übersichtliche Mengen zurückführt.
    Aber wer soll mit der verkleinerten Menge anschließend umgehen? Die Behörden, das wurde Miller entgegengehalten, doch wohl gewiß nicht. Nein, bestätigte Miller, auch nach

Weitere Kostenlose Bücher