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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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den Handbüchern des Versicherungsrechts gehe es um eine Führung von »unten nach oben«. Also Selbstorganisation? Wo soll die in so kurzer Zeit herkommen? fragte Miller zurück.
    Am ehesten schien noch ein Zusammenwirken vorstellbar zwischen dem Eigenwillen der Einwohner und einer gewissen einfachen Informationsarbeit (geklebte Zettel, Hörfunk, Lautsprecherwagen, Lokalsender). Das würde voraussetzen, erwiderte Miller, daß sich die dem Eigenwillen innewohnende Schwarmintelligenz im Fall einer solchen Katastrophe (die sich von einer Flucht des Wildes bei Waldbrand unterscheidet) einem Lernprozeß unterzieht. Mir scheint die Natur dieses Eigenwillens für die Rettung einer Weltstadtbevölkerung zunächst wenig hilfreich.
    So gab auch der analytisch präzise Blick des Bevölkerungsphysikers keine zureichende Perspektive. Abgesehen davon, daß alle 150 hochrangigen Experten derzeit noch warten mußten, obgleich die Flugzeuge in Chicago bereitstanden. In der japanischen Regierung war derzeit kein Zuständiger zu erreichen, der die Einreise einer solchen Gruppe und deren Einweisung zu einem Einsatz verantwortet hätte. Man kann nicht 150 Experten einfach losschicken wie ein Carepaket. Dazu braucht es Organisation.
Eine sich vergesellschaftende Rotte von Robotern
    Schon vor 25 Jahren hatte das Bundesamt für Strahlenschutz Roboter nach Tschernobyl geliefert. Sie sollten bei der Bahnung von Zugängen zum havarierten Kernreaktor helfen. Sie erwiesen sich als unpraktisch für das wüste Gelände der Havarie. Diese sensiblen »Westler« erschraken vor jedem Trümmerstück, das ungeplant auf ihrem Wege lag. Inzwischen sind die Roboter wesentlich verkleinert und fortentwickelt worden. Sie werden jetzt in Rotten eingesetzt.
    Die Bundesbehörde, die sie nun nach Japan zur Hilfe sandte, hatte dagegen nur ihren Sitz geändert, nicht ihre Handbücher und Gewohnheiten. Das »Hilfspaket für Fukushima« wurde so zusammengestellt wie einst das für die Pripjet-Stadt. Wieder sandte man, weil es in den Computern so vorgesehen war, die Geräte ohne ihre Wärter. So standen die Roboter in der Nähe eines Flughafens bei Sendai lange Zeit unausgepackt herum. Man suchte nach einem Japaner, der vor einiger Zeit als Praktikant im deutschen Bundesamt gearbeitet hatte und vielleicht Kenntnis von der Bedienung der Geräte haben konnte. Viel wurde zwischen der Bundesrepublik und dem japanischen Koordinationszentrum kommuniziert. Jedenfalls waren die Soldaten und Feuerwehrleute, die an den zerstörten Reaktoren die Wasserbesprühung intensivierten, nicht in der Lage, die in Deutsch verfaßten Gebrauchsanweisungen für die Roboter zu entziffern. Die intelligenten und einsatzstarken Geräte wären objektiv hilfreich gewesen bei der Freiräumung von Trassen, wie sie für die Verlegung großer Stromkabel, noch mehr aber für die Anfahrt und fortlaufende Versorgung der Feuerlöschfahrzeuge erforderlich waren. Solche Schneisen konnten wegen der extrem hohen Strahlungsdichte nicht von Menschenhand geräumt werden. Erst am Samstag, jetzt aber mit einer schnellen Maschine der Bundeswehr und Zwischentanken in Usbekistan, gelangte ein deutscher Fachmann nach Sendai. Er hatte schon am Bau der Roboter mitgewirkt, hatte sie »aufgezogen«. Die Maschinen erwachten. Sie hatten nämlich gewisse »Gewohnheiten«, reagierten aufeinander. Und Dr. Hanfried Wirtschler, ihren Konstrukteur, nahmen sie für einen der Ihren: Als lernende, sich untereinander vergesellschaftende Gruppe war ihnen kein Wegebau durch Trümmer und Zerstörung zu schwierig. Durch Schneesturm und die Anarchie der Dinge zogen sie mit ihrem Führer durch die Finsternis der Nacht. Es war die Nacht von Samstag auf Sonntag, in der es um Stunden, ja um Minuten ging, wollte man den Automatismus wasserlos daliegender Brennstäbe noch rechtzeitig unterbrechen. In einem gewissen Abstand vom Ziel mußte der Konstrukteur seine Kreaturen verlassen, die selbständig weiterzogen, in die Wildnis hinein. Man muß sich vorstellen, sagte Dr. Wirtschler, daß sie ein spirituelles Laboratorium um sich herum »empfinden«. Sie bilden eine »Welt für sich«, deshalb sind sie füreinander so wertvoll. Er sah sie in der Ferne, im Licht der Richtscheinwerfer der Feuerwehr, wie sie Betonteile beiseite rückten. Er selbst bleibepackt, aber auch in dieser abenteuerlichen »Rüstung« immer noch zu verletzbar für eine solche »Straße«. Unklar war ihm, ob die »Söhne«, wenn sie zum Abklingbecken des Reaktors Nr. 4

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