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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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nicht der Einzelne tun. Offenkundig war jeder Einzelne wie paralysiert. Aber sie waren in ihren weißen Schutzanzügen nahe beieinander. Sie konnten zeigen und andeuten. Irgendein Beschluß entsteht. Es entlastet, wenn die Last nicht auf dem Einzelnen liegt.
Kommunizierende Tunnelwände
    Eine fette graubraune Staubwolke wälzte sich aus dem Erdgeschoß eines alten Fabrikgebäudes im Gewerbegebiet von Bad Säckingen, heißt es in der Neuen Zürcher Zeitung . Diese Sprengung am Ufer des Rheins galt der Liquidierung eines stillgelegten Textilunternehmens. Der katastrophische und anarchische Eindruck täuschte. Die Sprengung beruhte auf durchkalkuliertem Plan.
    Die Gelegenheit, daß ein solches Industriegebäude durch Sprengung niedergelegt werden mußte, war von zwei besonders innovativen Unternehmen genutzt worden. Deren rasanter Erfolg beruhte darauf, daß der tatsächliche Ablauf bei Großunglücken noch weitgehend unbekannt ist. Für Forschung in dieser Hinsicht zahlten nicht nur Rettungsbehörden oder Unfallgefährdete, sondern vor allem auch Versicherungen. Es handelt sich zunehmend darum, zu wissen, wie man mit dem Einsturz von Gebäuden umgeht. Hierauf hat sich das Institut für AUTOMATISIERTE INFORMATIONSGEWINNUNG UND SCHUTZ KRITISCHER INFRASTRUKTUR IM KATASTROPHENFALL ( AISIS ) spezialisiert. Die Arbeitsgruppe, die dem Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik angeschlossen ist, arbeitet zusammen mit einem großen Unternehmen für Tunnelbau. In dem zu sprengenden Fabrikunternehmen wurden im Großversuch erstmals Sonden befestigt. Zwanzig energieautonome Sensoren sollten durch Funk Daten der fortschreitenden Explosion übermitteln. Die Sprengmasse war als Hohl- und Schneidladung so an Mauern und Stahlträgern angebracht, daß ein Teil der Halle intakt bleiben, der andere gründlich zerstört werden würde.
    Im Zentrum der Explosion versagte ein Sensor. Drei Sonden sendeten, starben dann ab; sie hatten zuvor die Überlastung des Mauerwerks gemeldet. Weitere acht meldeten Überlast, blieben aber intakt. Die restlichen acht Sonden registrierten keinen Druck. Jetzt hatten die Experten erstmals in einem Großversuch die Örtlichkeit der Katastrophe vor Augen. Feuerwehrpraktiker und Katastrophenschutzbeauftragte hatten, auch im Kriege, immer nur von Schätzwerten ausgehen können. Solches Raten kostete das Leben von Männern. Durch das Sensorsystem können bei Unglück in einem Tunnel oder einem Gebäude die Stellen ermittelt werden, von denen aus eine schnelle Bergung von Opfern möglich wird. Müßten solche Sensoren prophylaktisch an einsturzgefährdeten oder durch Erdbeben bedrohten Orten angebracht werden, wäre dies ein industrieller Auftrag, der bei beiden Unternehmen, der AISIS und der Firma für Tunnelbau, die Vollbeschäftigung und die wirtschaftliche Karriere auf Jahre hinaus garantieren würde.
Sie waren froh, in der Not beieinander zu sein / Lob der Kommunikation
    Mit rotgeränderten Augen stand der Kabinettsamtschef Yukio Edano um 5 Uhr früh japanischer Zeit vor den Kameras. Er hatte knapp zwei Stunden in einem Sessel des Amtes geschlafen. Zuvor hatte er 105 Stunden lang Rede und Antwort gestanden, gegenüber den Medien, den Ämtern und Kabinettskollegen; auch hatte er die eigene Truppe aufgemuntert. Dösen war während der TV -Gespräche und der direkten Kommunikation unmöglich. Auf jedes Wort mußte er exakt achten, auch vieles vorausbedenken. An Schlaf nicht zu denken. Aus Kriegszeiten ist bekannt, daß Menschen, die länger als 72 Stunden nicht schlafen, die Herrschaft über ihre Sinne verlieren. Ihre Organe verlieren das Zeitgefühl und treiben rhythmisch auseinander. Twitterer, die schon längere Zeit den Kabinettsamtschef beobachteten und untereinander über ihre Eindrücke kommunizierten, gerieten in Sorge. Sie wollten nicht, daß der Mann umfällt und stirbt. Eine Twitterin, die sich des Pseudonyms Odette K. bediente, führte die kommunikative Gemeinde an, die sich spontan gebildet hatte. Vielleicht, daß Edano wenigstens einen Moment lang die Beine hochlegte. Die besorgt Twitternden genossen es, zusammenzusein (auch wenn niemand wußte, an welchem Ort sich der andere befand) und in diesen Schreckenstagen Japans über ein so konkretes Interesse zu verfügen. Wenn sonst niemand zu retten war, wollten sie wenigstens diesen Sprecher bewahren. Sie twitterten ihn an. Niemand wußte, ob Odette K. jung, alt oder schön wäre. Angeblich trug die Mehrzahl der vernetzten Kommune, so behaupteten sie es

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