Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
wenigstens in ihren Mitteilungen, jeder an seinem Ort, himmelblaue Overalls, wie die Techniker sie tragen und in welche inzwischen auch alle Regierungsmitglieder gekleidet waren. Es handelt sich um Kleidungsstücke, die im Zentrum der Metropole Tokio gar nicht so leicht zu erhalten waren.
Bilder aus dem Zentrum des Geschehens
In der Tasche des dicken Schutzanzuges eines der Tapferen, welche die Zentrale von Fukushimas Kernkraftwerk zeitweise verlassen hatten und dann zurückgekehrt waren und irgendwie noch an den Reglern hantiert hatten, ehe sie tödlich kontaminiert waren, hatte sich ein primitives digitales Bildaufzeichnungsgerät befunden. Handtellergroß. Das hatte der Ingenieur neben sich auf den Tisch gestellt und eingeschaltet. Es enthielt die einzigen Bewegtbilder aus dem inneren Kreis der havarierten Kommandozentrale. Der soldatische Stoßtruppführer, der es später fand und zunächst bei der Eigentümergesellschaft abliefern wollte (die aber wollte die Information geheimhalten), verteidigte seinen Fund, indem er das Band kopierte. Wegen der radioaktiven Störung war wenig zu sehen. Die Automatik des Gerätes hatte ohne anfängliche Weisung, also unsicher, zwischen Totale und Nahaufnahme gewechselt – später in anarchischer Reihenfolge beide Aufnahmeperspektiven übereinandergelagert. Das hatte Ähnlichkeit mit Aufnahmen eines Marsroboters. Die kleine Kamera stand so, wie sie von ihrem Herrn hingestellt worden war. Einmal kurz eine Gasexplosion. Der Farbmodulor war intakt. So also sah die Katastrophe vor Ort aus.
Weder konnte man eine Morgenröte noch eine Dämmerung am Abend in diesem nach außen streng abgeschlossenen Raum beobachten. Die nicht unmittelbar dem Verständnis zugänglichen Bewegtbild-Informationen umfaßten eine Länge von 17 Stunden. Die Batterieleistung des Mini-Geräts war erstaunlich. Wären alle Elemente, die zur Verhütung eines Megaunfalls vorbereitet waren, so tüchtig gewesen wie der sterbende Held, der Besitzer des Aufnahmegeräts, und das zuverlässige Kleingerät selbst, wäre die Havarie noch in den Anfängen erstickt worden. Lediglich für den plutoniumbelasteten Reaktor Nr. 3 wäre ein ernsthaftes Problem geblieben.
Begriff der Arbeit in der Notzentrale
Man nannte die Techniker, die (stündlich ausgewechselt) ihre Stellung im Kontrollraum und an der Pumpstation der Kühlsysteme hielten, »Arbeiter«. Sie arbeiteten derzeit nicht, weil alle Handgriffe (und das wußten sie) nichts bewirkt hätten. Sie ARBEITETEN nicht, sie HOFFTEN : daß bald die Starkstromanschlüsse angeschlossen sein würden, welche fieberhaft von anderen Technikern zu ihnen vorgetrieben wurden. Dann erst konnten die Kühlkreisläufe beginnen zu »arbeiten«, und an deren technischem Stottern, den Fehlern, dem Austritt von Dampf und Energie sähen sie, wo Reparaturen angesetzt werden konnten. Sie hielten ihre Arbeitskraft, ähnlich einer Festung, die sich verteidigt, an dieser entscheidenden Kontrollstelle als Vorrat bereit. Dieses TODESBEREITE WARTEN AM RECHTEN ORT gehört zum Begriff der »Arbeit im emphatischen Sinne«, so Prof. Dr. Bert Haseloff aus Harvard. Stoffverändernde Einwirkung, wenn sie von Menschen ausgeübt wird, so Haseloff, beruht nämlich auf einer subjektiv-objektiven Haltung und nicht auf irgendeinem einzelnen Tun.
Haseloff weist darauf hin, daß Heidegger davon ausgeht, daß es am Menschen (im Hirn, im Körper, im Wesen und in sozialer Beziehung) »die Hand« gibt und nicht zwei Hände. Die Hand sei das Prinzip des ganzen entfalteten Körpers und Geistes. So gebe es immer nur eine Hingabe an den Tod oder einen Todesmut und nicht zweierlei davon. Vor dem »letzten Einsatz« würden die Einzelheit und die Vielzahl zur Phrase.
»Eine Metropole von 37 Millionen Menschen« →
Zwölf hochrangige Unzuständige hatten sich in der 37-Millionen-Stadt Tokio zu einer Besprechung getroffen. Dazu gehörte der Verteidigungsminister. Vom Finger Gottes oder vom geheimnisvollen Willen mächtiger Ahnen hing es ab, ob der Wind nach Süden drehte. Dann würde die radioaktive Wolke die Hauptstadt erreichen. 37 Millionen Menschen (und das ist nur ein statistischer Schätzwert, der die tatsächlich anwesende Menschenmasse nicht wiedergibt) können nicht an einem anderen Ort in Japan untergebracht werden, sagte der Chef der Wasserwerke. Sollte man eine Evakuierung durch Aufteilung auf viele Präfekturen versuchen? Unterbringung in Turnhallen oder in rasch errichteten Zeltstädten? So viele Turnhallen
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