Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
nämlich lediglich die Natur als eine Ganzheit und die Menschheit als eine Ganzheit einander gegenüberstellen, sagte er. Erst in diesem Maßverhältnis, sozusagen in der Flüssigkeit oder Viskosität, in der die Zufallsketten sich bewegen, sind statistische Annahmen fundiert. In diesem Aggregatzustand der Betrachtung entsteht das deutliche Bild einer Frontlinie: das Erdbeben in Lissabon 1755, die Erdbeben in Haiti im Jahre 2010, aber auch die Krakatau-Explosion von 1883 sowie die Vulkanasche von Island gehören in dieses Bild. Demgegenüber: die armseligen Vorkehrungen von Menschen, die als bloße Planarbeiten auf die Ereignisse antworten! Vergeßlichkeit als Bremse. Die Erde hat die Tendenz, ihre Macht von Zeit zu Zeit vorzuweisen. Dann ist es aber gleich, sagt Witzlaff, wo und wann die Natur ihre Pranke zeigt. Man denkt immer, daß in einem mathematischen Gehirn sich etwas mit Rechnen beschäftigt. Tatsächlich ist, zumindest wenn es um Statistik geht, ein Mathematiker mit BILDERN konfrontiert, erwidert Witzlaff. Sie sind denen der Poeten ähnlich. Weder sind sie genau noch ungenau, und auf diese Weise korrespondieren sie mit den gewaltigen Zufallswolken, von denen man nicht nur sagen sollte, so Witzlaff, daß sie den Erdball wie ein Wetter umrunden, sondern auch, daß sie auch unter der Erde ihre Gewalt ausüben als UNTERIRDISCHE , was schon dem Barocktheater bekannt war. 2
Empfindliche Abkömmlinge aus ferner Zeit
Der sensorische Teil unseres Ohres stammt erstens von den Drucksensoren ehemaliger Fische ab und zweitens von einem gemeinsamen Vorfahren, der die reizsensiblen Haare der Fliegen besaß. Keine Spur mehr in der Welt von diesen Vorfahren!
Der empfindliche Abkömmling im Ohr des Dirigenten Ingo Metzmacher befand sich in wüster Erregung. Die differenten Tonfolgen (wie sie Luigi Nono in Noten gesetzt hatte) explodierten, wenn sie aufeinanderstießen und durch Metzmachers Gesten wie mit einer Machete ihren Weg bahnten zu den Ohren und Händen der Orchestermusiker. Es entstanden bei den Proben, so der Kritiker der SZ , etwa zehn Ton- und Obertonkombinationen, die weder so in den Noten standen noch bis dahin überhaupt je auf Erden erzeugt und gehört worden waren. So haben die ausgestorbenen Vorfahren, von denen wir unsere sinnliche Ausstattung geerbt haben, immer neue, unerwartete Nachkommen. Aus tiefem Grund erkannte das Publikum, das an sich auf solche Zeichen nicht vorbereitet war und einen gewohnten Musikabend konsumieren wollte, das ABSOLUT BESONDERE des Vorgangs und applaudierte stehend, ohne genau sagen zu können, warum.
Kosmische Musik
Das Beben, das Japans Nordinsel um vier Meter nach Osten versetzte, war mit seinem Glockenschlag noch in den Schweizer Bergen zu messen. Der ganze Erdball empfing diesen Puls. Dies sind – nach Johannes Kepler – die Akkorde des Planeten Erde, wie er sie in seinem Buch aufgezeichnet hat. Einige der Töne folgen aufeinander im Abstand von tausend Jahren, und sie haben einen unterschiedlichen Klang, wenn sie sich wiederholen. Andere dieser Schläge sind kürzer getaktet. Das Restrisiko (an sich unhörbar) ist nach Keplers Behauptung indirekt zu hören, weil es nach Art einer schalltoten Wand reagiert. Während es nur ein MENETEKEL mit überliefertem Wortlaut gibt, sind solche toten Winkel der Wahrnehmung und die großen, als Erhabenheit und als Gefahrensignale deutbaren Glockenschläge des Erdballs KOSMISCHE MUSIK .
Es entlastet, wenn die Last nicht auf dem Einzelnen liegt
Die Beschlüsse in japanischen Betrieben entwickeln sich im Konsens. Das gilt auch für das Provisorium im Kernreaktor von Fukushima, die Brennstäbe der defekten Reaktoren mit Meerwasser zu kühlen. Die Idee lag nahe, weil das Meer direkt vor der Werksanlage liegt. Es war aber in der Eile nicht an die Versalzung der Brennstäbe gedacht worden. Beschichtung mit Salz fördert eine Erhitzung, die dann kein Wasser mehr kühlt. Man rechnete nicht mit einer so langen Kühlzeit. Für den ersten Tag war mit Versalzung nicht zu rechnen.
Ebenfalls kollektiv ermittelt war die Idee, Kunstharz über das Gelände der nuklearen Anlage zu sprühen. Der Belag sollte den partikelbehafteten Staub am Boden halten. Der eine hatte das Zeug für die Problemstellung, der andere das für die zündende Idee. Konnten aber die Teammitglieder in der nur von Taschenlampen erhellten Halle, im Streß des Zeitdrucks, überhaupt im gewohnten Sinne miteinander reden, denken und einen Konsens zustande bringen? Das mußte ja
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