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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 Prozent erwarten lassen.
    Das große Beben, 370 Kilometer nordöstlich von Tokio, entstand in 24 Kilometern Tiefe unter dem Meeresboden. Im Japangraben wird die pazifische Platte jährlich acht Zentimeter unter den Sockel der japanischen Inseln gepreßt. Die so gestaute Spannung summiert sich in der geologisch kurzen Zeit von tausend Jahren. Der Ausbruch selbst braucht einen Auslöser, der als Beben von 7,2 auf der Richterskala am 9. März 2011 stattfand. Das wurde erst im nachhinein klar. Wir verstehen jedes Geschehen erst aus den Datenmengen, welche die Computer gespeichert haben, behaupteten die Wissenschaftler übereinstimmend. 0,2 auf der logarithmischen Richterskala bedeute eine Verdoppelung. Das große Tōhoku-Beben vom 11. März war somit 500mal stärker als der Auslöser, den wir übersehen haben. So sprachen Rongjiang Wang und Thomas Walter vom Forschungszentrum in Potsdam. Innerhalb von 150 Sekunden erfaßte der Bruch eine linsenförmige Zone von 400 Kilometern Länge und 200 Kilometern Breite. Unterhalb des Bruchs in der Tiefe von 25 Kilometern bildete die spröde Erdkruste eine sich dahinwälzende Masse. Im Zentrum des Bruchs verrutschten Segmente der Kontinentalplatte um 18 Meter. Die Insel Honshu verlagerte sich um vier Meter nach Osten, um sieben Meter wird der Meeresboden angehoben. Die sich entladenden Energien, berichteten die Wissenschaftler beim Essen in der Kantine, entsprechen mehreren Millionen Atombomben. Zu diesem Zeitpunkt der Erzählung war die Kanzlerin bereits weitergefahren.

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Der Lebenslauf einer fixen Idee
Der Schreiner von Athen
    Ein Schreiner in Athen hat seit Januar 2011 keine Kunden mehr gesehen. 13000 Euro Schulden liegen auf dem Geschäft. Sein Häuschen, in dem Werkstatt und Familie untergebracht sind, steht zur Zwangsversteigerung an. Die Kinder und seine Frau, mit welcher er seit kurzem in Streit lebt, werfen ihm vor, sich nicht intensiv genug gegen den wirtschaftlichen Verfall gewehrt zu haben. Neben seiner Werkstatt liegt eine Baugrube. Dort wird er sich umbringen.
Besser wenn es keine Regierung gibt, die Verträge unterschreibt
    Auf dem Syntagma-Platz in Athen hat sich eine Gruppe von Streikenden der posteigenen Gewerkschaft aufgestellt, welche gegen die Privatisierung dieses Staatsbetriebs demonstriert. Wenig Zuschauer. Zu anderen Zeiten ist dieser Platz vollständig von Menschen besetzt. Einen Journalisten der Wiener Zeitung Der Standard wundert es, daß Vorträge quasi über die Lautsprecher gehalten werden. Aufmerksam lauscht die Menschenmasse.
    Gegen wen läßt sich der Protest oder eine handgreifliche Attacke richten? Hat es Sinn, eine Bankfiliale in Brand zu setzen? Schuldscheine zu verbrennen? Es wären nur Kopien.
    An verborgenem Ort arbeitet eine Tätergruppe von fünf Personen nach dem Vorbild von Gruppen der siebziger Jahre an Paketbomben. Der griechische Geheimdienst beobachtet diese Aktivitäten (seine Erfahrung reicht zurück bis zum Gewaltregime der Obristen). Neuerdings zögert dieser Geheimdienst, die Terrorarbeit aufzudecken oder zu unterbinden. Es ist unklar, was für das Land nützlich ist: der Ausdruck von Protest durch Gewalttaten oder eine gehorsame Republik, welche die Forderungen der Kreditgeber erfüllt und jede Störung durch Terror ausschaltet. Nach Auffassung der Geheimdienstleute geht es bei dem »wilden Widerstand der Terrorgruppen« um einen Mitnahmeeffekt: Sie benutzen die Empörung der Bevölkerung als Hintergrund für ihre Taten, die sie ohnehin begehen wollen.
    Vermutlich wäre es besser, wenn wir in Griechenland in solcher Lage keine Regierung hätten, meint der Enkel eines ehemaligen ELAS -Kommandanten von 1944, jetzt Gastprofessor in Köln. Es sollte niemand dasein, der immer erneut die Kapitulationen unterschreibt. Ist keine Regierung da, kann niemand Konzessionen machen. So wie die Verantwortlichen, welche den Schuldenberg errichteten, auch nicht mehr greifbar sind. Anders gesagt: so wie wir die Kreditgeber physisch nicht sehen und mit Händen nicht angreifen können. Auch gilt: Sind keine Gerichte vorhanden oder sind sie so korrupt, daß ihnen niemand Folge leistet, können keine Pfändungen und Zwangsvollstreckungen durchgeführt werden. Gerichtsvollzieher instruieren die Bevölkerung, wie man alles Wertvolle versteckt und dadurch überlebt.
    In einer ungegenständlichen Welt gilt es, alle gegenständliche Autorität einzureißen, so der griechische Gastprofessor.
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Werden damit

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