Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Angehörige dieses Toten.
Für die Warnung vor dem Tsunami standen 15 Minuten zur Verfügung. Fünf Minuten dauerte es, bis sich die Nachricht bei den Verantwortlichen verbreitet hatte.
Rikuzentakata ist ein Fischerort, der sich von der Küste in ein Tal zu den Hügeln hinaufzieht. 257 Schüler, die sich im Schulgebäude aufhielten, wurden hinter das Gebäude hügelaufwärts geführt. Der Schwimmcoach der Schule, Frau Motoko Mori, die zu den Vermißten gehört, wurde zuletzt gesehen, wie sie in Richtung des B&G-Centers, der Badeanstalt, rannte. Sie soll versucht haben, das ihr anvertraute Schwimmer-Team zurückzuholen. Es wird gesagt, sie habe die Kinder noch bis zu einer Schwimmhalle gebracht, die so gebaut war, daß die Wassermasse, die erwartet wurde, zwischen den Stelzen des Gebäudes hätte hindurchfluten können. Auf diese »Insel« wollte sie die Schüler retten. Nichts von dem Gebäude blieb intakt.
Der Tsunami überrollte das B&G-Bad, dessen massive Betonträger umstoßend. Bäume und Dächer lagen, wie später festgestellt, im Becken, das kein Wasser mehr enthielt. An einer der Wände des Schwimmbads war eine Schrift erhalten: »If your heart is with the water it is a medicine for peace and health for longlife.«
In den Räumen der High School, die als Flüchtlingszentrum dienen, hängen Abbildungen von Vermißten. Mounty Dixon, ein Journalist aus Anchorage (Alaska), glaubt beobachtet zu haben, daß Eltern und Angehörige von Vermißten an Phantasien festhalten, daß vermißte Schüler noch draußen in der jetzt ruhig daliegenden See um ihr Leben kämpfen. Auch gibt es Inseln weit draußen vor der Bucht. Eine Gruppe von Angehörigen hat Geld zusammengelegt, damit man ein Motorboot ausrüstet, das dort nachsehen soll. Wie Dixon mitteilt, gibt es in Japan Gespensterglauben, auch im Hinblick auf gute Geister, die gegen alle Wahrscheinlichkeiten Kinder zu ihren Eltern zurückführen.
Das Fischerstädtchen besaß früher eine Küste mit tausend Koniferen. Die umgebenden Hügel sind nun mit einer Girlande von Schiffswracks versehen. Im Schulzentrum wird von 1700 Vermißten gesprochen. Hierbei ist das Wort »vermißt« ein Euphemismus, so Dixon. Es gibt aber auch eine positive Nachricht. Eine achtzigjährige Frau und ihr Enkel überlebten, eingeschlossen im Keller ihres zerstörten Hauses, ernährt vom Inhalt ihres Eisschranks. Der magere Junge kroch durch die Trümmer auf ein Licht zu, das sich als der Tag erwies.
In der High School gab es zwei Curricula. Da der Ort zum Einzugsbereich eines Fischereikonzerns gehört, können die Kinder wählen, ob sie sich für eine der Sparten des Fischereiwesens oder für einen allgemeineren Beruf heranbilden lassen.
Müde, ohne gearbeitet zu haben
Wir vom Technischen Hilfswerk hatten die Ladung unserer Herkules-Maschine, eines früheren Militärflugzeugs, sorgfältig überprüft. Mit Zelten waren wir ausgerüstet. In den Rucksäcken war für 14 Tage unabhängigen Überlebens alles verwahrt. Unsere Werkzeugkästen sind vom TÜV anerkannt. So hätten wir auch zu einer Wüstenexpedition aufbrechen können. Zwei unserer Leiter waren mit einer Verkehrsmaschine vorausgeflogen. Sie sollten erste Aufträge akquirieren. Wegen der Umleitung der Zivilflüge in Japans Süden waren wir vor ihnen im Katastrophengebiet. Lange standen wir in der Warteposition für die Zollabfertigung. Das lokale Telefonnetz, auch der Mobilfunk, war zusammengebrochen. Wir kannten die geographischen Umstände und die Orte der größten Schäden besser als jeder der hier örtlich Verantwortlichen, da wir mit der Bundesanstalt für Luft- und Raumfahrt in Kontakt standen, die aus dem Orbit Totalübersichten und scharfe Großaufnahmen der Unglücksstätte lieferten. In der Enge des inzwischen überhitzten Flugzeugs saßen wir tatenlos mit unserer Information. Unsere Suchhundestaffel war unruhig. Die Tiere können nicht Stunde um Stunde untätig verharren. Sie sind begierig, Überlebende zu suchen. Dafür sind sie ausgebildet. Die Behörden wußten nichts mit unserem Eintreffen anzufangen. Unser Mut, unsere Motivation sank. Kein Hilfsbereiter will so lange Zeit unter so miserablen Umständen warten. Zwei Tage später wurden wir, verpackt wie beim Abflug aus Deutschland, wegen zunehmender radioaktiver Strahlung von dem Aushilfsflugplatz (private Segelflugzeuge), auf dem wir standen, nach Süden verlegt. Am Ende der Woche rief uns die Einsatzleitung unverrichteterdinge nach Hause zurück. Der Dolmetscher, den
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