Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
man uns mitgab, war kein Muttersprachler; er konnte sich mit den hier ansässigen Japanern nur schwer verständigen. Ein Kontakt mit der deutschen Botschaft kam nicht zustande, da diese sich im Umzug von Tokio nach Osaka befand. Wir fühlten uns »gottverlassen«. Müde, ohne gearbeitet zu haben.
Absinken des Aktualitätswerts
An Nachrichtenwert hatte Fukushima im Juni 2011 verloren. Das lag an dem Andrang weiterer Aktualitäten und hatte nichts mit dem zähen Fluß der Tatsachen vor Ort zu tun. Dort waren jetzt die Anfänge der Regenzeit zu beobachten. Im Turbinengebäude von Reaktor 2 und 3 stieg das mit Cäsium gesättigte Wasser stündlich um drei bis vier Millimeter. Durch die Löcher, welche die Installation der Kernkraftanlage zum Himmel hin aufwies, fiel eine Rekordmenge an Regen in alle Behälter, die Wasser führten. Ein Amateurteam (in Schutzanzüge gekleidet) filmte Arbeiter in deren Schutzanzügen und in hüfthohen Spezialstiefeln. Die Arbeiter wateten mit Taschenlampen durch die Flüssigkeit. Die Filmsequenz hatte eine Länge von sieben Minuten und konnte an keine Agentur, auch nicht an das nationale Fernsehen NHK , verkauft werden. Der Film über die Not der Arbeiter, die, wie sie sagten, nicht sicher sein konnten, ob sie in ihrer Kostümierung nicht doch in Gefahr wären, hielt die Rivalität der Vorführung von Bildmaterial über Dominique Strauss-Kahn, der vor einem US -Gericht vorgeführt wurde, und die Aktualität des Ehec-Bazillus nicht aus. Es wurde aber bekannt, daß es weltweit einen Markt für Leiharbeiter für die Reparatur beschädigter Atommeiler gebe, die gegen einen hohen Bonus für »Einsätze unter Senkung der Sicherheitsregeln« zur Verfügung stünden. Mit Flugzeugen werden sie von Ort zu Ort in der Welt umhergeflogen.
Besuch der Kanzlerin
Die Bundeskanzlerin hatte auf dem Weg zum Flughafen Schönefeld, wo ihre Maschine um 11.55 Uhr starten sollte, einen Abstecher nach Potsdam gemacht. Zu den Leuten vom Deutschen GeoForschungsZentrum. Sie hätte die Experten auch ins Kanzleramt bitten können, aber dann hätte sie nicht alle gesehen, hätte die Gerätschaften nicht beurteilen können; im übrigen war sie ja auch nicht im Kanzleramt, sondern mußte reisen; so hätte sie also zu keiner Zeit diese Wissenschaftler einladen können. Besser, sie zweigte eine halbe Stunde für die Vorbeifahrt ab.
Fragen hatte sie sich aufschreiben lassen. Es ging um die geologische Einschätzung der Gefahr, die von der Plasmablase weit unter der Eifel ausging. Sie hatte die Vulkanseen jenes Gebirges, die »wie tote Augen zum Himmel starren«, in ihrer Lebenszeit nur auf Abbildungen gesehen, besaß aber genügend Ahnung, um sich in zwanzig Kilometern Tiefe unter solchem schwarz blickenden Wasser die Gluten und unberechenbaren Bewegungen der dort teigig sich bewegenden Schmelze vorzustellen. Stets hieß es: Das kann für die Republik nicht gefährlich werden. Dann sind es eben andere Ereignisse, sagte sich die Kanzlerin, die aus der Modellrechnung herausfallen. Etwas lauert an den Rändern des Wahrscheinlichen.
Die Experten des Forschungszentrums versuchten sich kurz zu fassen. Der Besuch regte sie an, so daß einige von ihnen nach Weiterfahrt der Politikergruppe richtig in Fahrt kamen. Es gibt drei Orte, an denen sich derzeit das Wissen über die Erdkruste und das große Tōhoku-Beben konzentriert: Das sind die Universität von Sendai, das sibirische Forschungszentrum Akademgorodok und die Forschungsstätte in Potsdam. Die Wissenschaftler an der Tōhoku-Universität in Sendai hatten bereits vor zehn Jahren gewarnt. Am 13. JULI 869, ALSO HEUTE VOR 1142 JAHREN , EREIGNETE SICH DER SOGENANNTE JOGAN - TSUNAMI . Seine Spuren können die Archäologen bis vier Kilometer landeinwärts verfolgen: Trümmer in der entsprechenden Tiefenschicht. Berücksichtigt man die Felsküste und die Höhe der Hügel, welche die Flutenwelle zu überwinden hatte, läßt sich die Gewalt der Wassermassen einschätzen: als Wasserschwall von bis zu 34 Metern Höhe. Die Experten von Sendai, in Übereinstimmung mit ihren Kollegen in Akademgorodok (bei Dissens kalifornischer Experten) rechnen alle tausend Jahre mit einem Erdbeben von 9.0 oder mehr auf der Richterskala. Dementsprechend haben, so die Mitteilung der Wissenschaftler an die Bundeskanzlerin, die Erdbeben unter der nordanatolischen Hochebene, die sich Istanbul nähern, eine Langfrist-Periode, die eine Gefährdung der türkischen Zehn-Millionen-Stadt in den nächsten zehn
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