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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Jetzt wollte er in einem Sessel den Vormittag mit Blick auf die Bucht von Heraklion verbringen. Zwei Tragekisten mit Lektüre führte er mit sich. Solange er nicht an Land ging, hatte er keine Sorge, von griechischem Boden enttäuscht zu werden.
    Der Kapitän des Schiffes hatte gegenteilige Interessen. Die Nächte waren für die großen Fahrtbewegungen des Schiffes bestimmt. Am jeweiligen Morgen danach, an dem das Schiff an einem seiner definierten Ziele angekommen war, sollten die Gäste das Schiff verlassen, ihre Besichtigungen durchführen. Die Besatzung sollte auf dem Schiff ungestört putzen dürfen oder ihre Ruhe haben.
    Der Philosoph schrieb. Er verfügte vor seinem inneren Auge über mehr Kreta, als eine Reisegruppe durch Betreten der Küste zu erlangen vermochte. Vielleicht war aller Mythos immer schon Wort gewesen und kein Gelände. Es mochte sein, daß es eine Wirklichkeit, wie sie der Majestät des Berges der Göttin Ida entspricht, den Heidegger vom Schiff aus sich vorzustellen versuchte, nie gegeben hatte.
    Spätnachmittags fuhr dann doch eine Gruppe, in der sich auch Heidegger befand, mit der Straßenbahn hinaus bis Knossos. Plumpe, an Felsen erinnernde Mauerstücke. Es konnten auch Festungsbauten der Venezianer sein, die für den Palast des Minos ausgegeben wurden. Elegant erschien eine das »Labyrinth« genannte Struktur, vielleicht der Palast einer Königin oder eine Gelehrtenschule. In einer großen Ledertasche sammelte der Philosoph merkwürdiges Gestein, das er für antike Fragmente dieses Baues hielt, als wäre er Archäologe oder Geologe. Das Gepäckstück wog schwer.
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    [»Nun sind unsere Augen und durch sie unser ganzes inneres Wesen an schlankere Bauart hinangetrieben und entschieden bestimmt, so daß diese stumpfen kegelförmigen, enggedrängten Säulenmassen lastig, ja furchtbar erscheinen.«] Diese Beobachtung Goethes bezog sich auf Tempel der Griechen in Süditalien. Offenbar befinden wir uns, so Heidegger beim Abendessen, in größerer Ferne zum 5. Jahrhundert v. Chr., als wir meinen. Wir haben uns das Griechische durch viele Blicke des 18. und des 20. Jahrhunderts verfeinert. Es ist aber ursprünglich nicht von moderner, sondern von primitiver Größe. Wie elegant schwangen wir Jungphilosophen das brutale Schwert in Davos gegen Cassirer, ungeachtet seiner Blessuren. Wir waren mitleidlos, nicht feingliedrig im Argument. Kein Säulentempel stürzte ein, weder durch unseren Stoß noch weil die filigrane Bauweise in den Gedanken des Neukantianers Gotteshäuser nicht trug. Noch jetzt tat dem Philosophen die Tat nicht leid.
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    [Am nächsten Tag war Ostern] Patmos vorbei. Nun reisten sie die ganze Nacht, und am Morgen erblickten sie die Insel Rheneia und dann die Insel Delos. Auf langsamer Fahrstufe glitt das Schiff in ruhigem Wasser. Die Insel Delos hat einen flachen Strand.
    Die Insel verhüllte, was nur der Philosoph wußte, ein Geheimnis, und zwar aus Quellen, die er entweder selbst übersetzt hatte oder vom Hörensagen durch Vertraute kannte. Es schien ihm noch interessanter als das der Insel Patmos, die ihn durch Hölderlins Texte und das apokryphe Evangelium des Johannes mit Gedankentrauben reicher Art versorgt hatte. In Delos nämlich sind Artemis und Apollo geboren. Und die Wahrheit, das unverborgen Entbergende, zugleich Verbergende und Bergende, das Offenbare eröffnet sich, sobald man die Texte auf dieses Wahre hin liest und die sie bedeckende Schicht von nachträglich Zusammengesetztem abträgt, die Interpretation ausblendet. Dann sieht man, daß sie Brüder sind, nicht etwa Gott und Göttin. Insofern brachte Heidegger etwas, das er wußte, an diese Stelle der Welt. Das hätte er auch ohne Reise haben können. Entbehrt hätte er den Gedanken, der ihm einfiel, nur weil die Insel mit ihrem Kiesstrand in einer Art Nebel lag, daß es nämlich in gravierendem Ausmaß ein Deutungsfehler ist, wenn man den Göttern Eigenschaften des menschlichen Geschlechts, also die Zeichen von männlich und weiblich, überhaupt zuschreibt. Wieso sollen Götter, die von der Erde aufgestiegen sind und uns verlassen haben, die schmähliche Teilung des ursprünglichen Wesens in zwei einander begehrende Nichtse mitgenommen haben. Sie sind doch frei. So erblickte Heidegger (und Adorno hat ihn darum beneidet, als er mit dem Gegenphilosophen, dem vermeintlichen Feind, auf dem Parnaß konferierte) in den Konturen der »geheimnisvollen« Insel die FREIHEIT DER GÖTTER , die darin besteht, daß sie alle

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