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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Ermittlern und den Anarchisten. Keine der Gruppen der anarchistischen Szene war einer vorhergehenden gleich. Die Gruppen erbten sich nicht fort, jede von ihnen hatte eine begrenzte aktive Zeit. Nur die Namen zeigten eine Abstammung, so die der FAI des Jahres 2011 von der FAI in Barcelona von 1936.
    Überall in der Welt hatten die Organisationsstrukturen sich verändert. Große Apparate mit Millionen von Zuarbeitern organisierten die Welt und kämpften ihren Überlebenskampf. Auf der Seite der Allianz, die das Flugverbot in Libyen zu gewährleisten suchte, arbeiteten Hunderttausende zusammen. Eine europäisch-atlantische Öffentlichkeit bildet sich aus einigen Millionen vernetzter Teilnehmer, die »zur gesamten Hand« etwas tun.
    Der anarchistische Kopf dagegen blieb das Jahrhundert hindurch individuell. »Für die Vision einer besseren Welt« (so stand es in dem Bekennerschreiben der FAI ) genügt Gruppenbildung auf einfacher Stufe, sechs bis acht Leute. Und ebenso auf der Seite der Herrscher: Die eidgenössische Bundesanwaltschaft vermehrte die Zahl ihrer Planstellen, trotz aller Eingaben und Vernehmlassungen, in den Jahrzehnten nur unwesentlich.
    Um so erstaunlicher, sagte Dr. Stranske vom Wissenschaftlichen Dienst der Stadtpolizei Zürich, daß der Anarchismus bei so primitiver Organisationsstufe, quasi jener von gesellschaftlichen Einzellern, sein Haupt doch immer neu erhebt. Es ist ja auch nicht ein Anarchismus, sondern es sind Gruppen, die sich hüten würden, sich zusammenzuschließen. Spontan bildet sich »das gewaltsame Auge«, so Montancri, Stellvertreter des leitenden Staatsanwalts der Bundesanwaltschaft. Als gebe es, so wie der Menschheit das Reich der Viren und das der Bakterien gegenüberstehen, eine zweite Spezies der Menschheit, eine der Rachegeister, die sich in unserer Wirklichkeit gar nicht erst ansiedeln. Bei Berührung mit ihr aber zünden die Bomben.
In großer Ferne zum 5. Jahrhundert v. Chr.
    Der wilden Phase seines Lebens entwachsen, 73jährig, reiste der Philosoph Martin Heidegger im Frühling 1962, dem Jahr der Kuba-Krise und ein Jahr vor Kennedys Tod, mit einer Reisegesellschaft nach Griechenland. Die Reise war ein Geschenk. Er bestieg das Schiff in Venedig.
    Der Wortjäger war skeptisch. Er war sich nicht sicher, ob auf dem Gelände der untergegangenen Antike sich irgend etwas finden würde, das uns Heutige berühren könnte, so wie die Schriften zu uns sprechen. Ich hätte schon 1941 durch dort kommandierende Freunde davon gehört, sagte er, wenn sich auf der Halbinsel oder auf Kreta etwas Überraschendes gezeigt hätte. In einer Nachtfahrt erreichte das Schiff Dalmatiens Felsenküste und gegen Abend Korfu. Dies ist Ithakas Nachbarinsel. Diese Insel des Odysseus, an der das Schiff anderntags nur schwer den Landesteg fand, konnte auf keinen Fall der Ort sein, behauptete Heidegger, an dem der antike Held im Schutze seiner Göttin an Land gegangen war. Er hätte, als Schiffbrüchiger, gewiß nicht die mit Unterholz gesperrte steile Küste erklimmen können. Wo sollte der Sauhirte hier seine Tiere geweidet haben? Ohne sich nennenswert aufzuhalten, bestieg Heidegger ein kleineres Schiff, landete an der Küste des Festlandes, erreichte mit Bahn und Bus Olympia. Die Reisegesellschaft besichtigte den heiligen Wald von Altis.
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    »Seeliges Griechenland! du Haus der Himmlischen alle /
    der Boden ist Meer! und Tische die Berge /
    Wahrlich [...] vor Alters gebaut!«
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    [Der vorsichtige Heidegger will lieber gar nichts mehr sehen] Im Auge des Seefahrers weht »scharf der Nordost«, heißt es bei Hölderlin. Das gilt für ein schnittiges Schiff aus Holz, die Segel schlagen im Sturm. Deshalb die Schärfe des Windes nicht nur draußen in der Nacht, sondern im Inneren des Schiffsführers, der seine ganze Lebenszeit in Zweikämpfen mit Poseidon verbracht hat. Das sieht der Philosoph, während der Eisendampfer, der die Reisegruppe transportiert, von Ithaka durch die Nacht sich zum Golf von Korinth bewegt.
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    »Die Nacht kommt /
    Voll mit Sternen /
    und wohl wenig bekümmert um uns.«
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    [Heidegger hat Streit mit dem Kapitän des Schiffes] Der Geruch von Farbe auf Eisen, der sanfte Schleier von Schornsteinrauch, das Schiff mit seinen Stiegen als Übungsgelände für den alternden Körper (anders als Gebirge) waren dem Philosophen inzwischen vertraut. Die Sturmfahrt in der Nacht von Naukia nach Kreta hatte der gefestigte Mann zwar ohne Schlaf, aber auch ohne Reaktion des Magens überstanden.

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