Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
der neuen Kabinettsminister in Magdeburg, der Stellvertreter des Ministerpräsidenten, schrieb mich an und bat mich, einen Lebenslauf für ihn zu skizzieren: Wie wäre sein weiteres Vorgehen zu beschreiben, passend, ruhmgekrönt und von Vorteil für das Gemeinwesen? Die von mir vertretene Expertise wird inzwischen wie ein Horoskop Keplers geschätzt. Der »skizzierte Lebenslauf« ist wie das Kleid eines Designers, macht wie das Kostüm die Person.
Die Ärzte der Charité sahen keine Möglichkeit, den energischen Lebenskämpfer abzuwimmeln
Im legendären Winter von 1962 auf 1963 hatten die Schneemassen die Produktion im Norden und Osten, einschließlich der Industrien der Hauptstadt der DDR , lahmgelegt. Das hatte Wilfried Mücke als BEWÄHRUNG erlebt. Die Werksbrigaden wurden eingeteilt. Die Betriebskampfgruppen, ohne Gefechtswaffen, aber mit den Waffen der Arbeit, hatten die Natur gezähmt, einschließlich des tückischen Eisgangs auf der Oder und der Spree zu Ende der Krise. Das war erzählenswert.
Nach Dienstschluß hatte sich in den Folgejahren eine Art Sagenkreis entwickelt, auf Trinkabenden, auf Bereitschaftssitzungen. War die Sache durcherzählt, konnte man von vorn beginnen, so viele Details blieben unberichtet. Es waren reiche Erlebnisse gewesen. Stolz lag in den Gesprächen.
Dann hatte diese Saga nach der Wende (und nach dem Untergang des VEB Kabelwerke Oberschöneweide) von einem Monat auf den anderen ihren Wert verloren. Von Höhepunkten der sozialistischen Zeit (vielleicht einem Zeitabschnitt von drei Wochen in den vierzig Jahren der demokratischen Republik, in denen Solidarität, sozialistischer Impuls real geworden war, quasi der Not abgepreßt) wollte kein Gesprächspartner mehr etwas wissen. Man behält die Rente, so Mücke, der Betrieb, der Status, der Lebenslauf und der Gesprächsstoff werden enteignet. Wann immer Mücke zu seiner Erzählung ansetzte (so wie sein Vater noch von seiner Zeit vor Stalingrad oder sein Urgroßvater von der Marneschlacht berichtet hätte), leerten sich die Sitze des Lokals. Die Zeit gibt es nicht mehr, sagte Mücke zu sich. Er wußte nicht, welche NEUE ZEIT sie ersetzen könnte. Worin er lebte, war für mehr als zehn Jahre keine »Zeit«. Es war ein Wartezimmer.
Er forderte sein Leben, nachdem er sich auf die Lage eingestellt hatte, von den Ärzten nachträglich ein. Diese hatten Krebs diagnostiziert und ihm eine Niere weggenommen. Ein Jahr später Metastase im Knochen. Der Knochen wird entfernt. Und jetzt die Lunge. Die befallenen Lymphknoten, verteilt über beide Lungenflügel, müssen vom Rücken her durch Sonden angegangen werden. Allein dafür waren mehrere Operationen nötig. Die Ärzte in der Charité, überlastet, sahen keine Möglichkeit, den energischen Lebenskämpfer abzuwimmeln. Seine körperliche Situation schien ihnen aussichtslos. Nein, Mücke forderte die Quintessenz seines Lebens noch einmal vom medizinischen Fortschritt zurück. Da er sich, wie er sagte, für das Vaterland verausgabt hätte. Wenn er davon schon nicht erzählen konnte, wollte er wenigstens geheilt werden. So kam er zäh zurück zu den Untersuchungen, den Operationen, zur Vorbereitung seines Körpers auf den nächsten Eingriff. Sterben, sanglos untergehen, wollte er nicht.
Wäre ihm das Erlebte, das Gestaltete der errungenen Erfolge anerkannt worden, sagte Heiner Müller, der Mücke als Schicksalsgefährten 1994 in der Kantine des Berliner Ensembles kennengelernt hatte, dann hätte Mücke vermutlich eingewilligt, ohne extreme Strapazierung öffentlicher Mittel unter die Erde zu gelangen. Das hätte aber schon ein ERZÄHLFEST sein müssen nach den Frustrationen, die unmittelbar auf die Wende folgten. Zum Zeitpunkt dieses Gedankengangs und der kurzen Begegnung mit Mücke vermochte Heiner Müller seine Bulette durch den von Speiseröhrenkrebs befallenen Schlund kaum noch hinunterbringen.
Ein Geschichtsfaden
In einem bürgerlichen Wohnhaus, gleich hinter der Brücke, welche neben dem Berliner Ensemble über die Spree führt (noch 1945 für die aus dem Führerbunker Flüchtenden eine letzte Rettungsstrecke vom Bahnhof Friedrichstraße nach Norden), findet sich ein Büro der Bundesregierung, in dem zwei Verwaltungskräfte jene Dienststelle bilden, welche die verbliebenen Kredite des Reichs zur Bezahlung der Versailler Vertragspflichten, umgeschuldet 1930 durch den Young-Plan, mit Zins und Tilgung abwickeln. Inzwischen sind das geringe Beträge, da über das 20. Jahrhundert hinweg
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