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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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kontinuierlich gezahlt wurde. Die Unterbrechung der Zahlungen zwischen 1945 und 1949 (nach September 1939 wurde über die Schweiz gezahlt) konnte anschließend aufgeholt werden. In der als Büro bezeichneten kleinen Wohneinheit im zweiten Stock sind bedarfsmäßig zwei Tische, drei Stühle ohne Armlehne, zwei Telefone und Zubehör attachiert. Der Bundesrechnungshof prüft die Behörde alle zehn Jahre.
Ausradierte Jahre
    Sie waren als Kindersoldaten rekrutiert worden. Auf den Reisfeldern Kambodschas und entlang des Tonle-Sap-Sees, der seine Gestalt von Monat zu Monat verändert, hatten sie die revolutionär aus Teilen der Stadtbevölkerung zusammengestellten Arbeitsbrigaden zu den Orten geführt (und dort bewacht), wo diese ihre Arbeit verrichten sollten. Mit Eifer, ohne Sadismus, gehorsam den Befehlen, in Erwartung eines »Reiches der Khmer« in den nächsten Wochen, das seit 1000 Jahren tatsächlich existierte. Die Herrschaft, der sie dienten, dauerte drei Jahre, drei Monate und dreizehn Tage. Intensiver Kampf.
    Die aufs Land evakuierten Städter waren zum Reisanbau ungeeignet, auch für Straßenbau untauglich, für Kommandoarbeit in diesem Gelände, das sie nicht kannten und auf das sie nicht eingestellt waren, deplaziert. Das setzte erhöhte Wachsamkeit der Aufseher voraus. Sie mußten die Städter nicht bloß an der Flucht hindern, sondern antreiben. So waren alle Sekunden dieser Zeit aktiv ausgefüllt.
    Der jetzt 48jährige war zu Anfang der Bewegung 13 Jahre alt, am Ende 16. Von dieser Wirklichkeit–Unwirklichkeit war nach Zusammenbruch der Umwälzung nichts geblieben. Unmittelbar nach Ende der Gewaltherrschaft war das Geleistete, der gesellschaftliche Kampf, verschrien. Es war klug, seine Zugehörigkeit zu den Bewachern nicht zu verraten. Eine Zeitlang verbarg sich der junge Kämpfer bei den Genossen, die in den Wäldern noch Widerstandsgruppen bildeten. Dann entkam er nach Singapur, einer Metropole, die doch des Teufels war. Inzwischen war er durch Arbeit hier angewachsen, hatte eine Familie gegründet. Bald leitete er ein kleines Unternehmen. Mit etwas Phantasie konnte er die VERWORRENE STADT als einen See mit Ufern wie denen des Tonle Sap deuten und die eigene Tätigkeit darin für Reisanbau halten.
Körpergröße und Bedeutungswandel
    Menschen von heute sind in unseren Breiten, schreibt Willi Eiselt, im Schnitt bis zu zehn Zentimeter größer als noch vor 120 Jahren. Dennoch sind die DIN -Normen für Türrahmen nicht angepaßt worden, auch nicht auf dem Staatsgebiet der DDR . Wären die Normen nicht seinerzeit großzügig berechnet worden, müßte ein Mitteleuropäer den Kopf einziehen, wenn er eine Tür durchschreitet. Das alles betrifft eine Bevölkerung, so Eiselt, auf die es inzwischen nicht mehr ankommt. Sie wird für die zur Verfügung stehende Arbeit nicht in dieser Zahl benötigt, gleich, ob sie einen Kopf größer oder kleiner ist. Es wäre besser, sagt der Landrat von Aschersleben (einer Stadt auf halbem Wege zwischen Halberstadt und Halle), wenn Teile der Bevölkerung wegzögen. In den teilrenovierten Wohnblöcken wartet bereits die zweite Generation darauf, daß sich hier etwas verbessert. Ausgeschlossen ist es aber, daß Leuna wiederkehrt. Wie in einer Gefängnisanstalt müßte man die Leute mit Tütenkleben beschäftigen.
    Das sind allzu negative Betrachtungen, wandte Heinz Schäfer ein, ebenfalls ehemaliger Genosse und Hauptschullehrer. Er kam gerade von der Hochzeit eines Sohnes der Stadt mit einer jungen Frau aus Hamburg. Die Gegeneltern hatten das Hochzeitsmahl ausgerichtet, obwohl die Hochzeit am Wohnsitz des Bräutigams stattfand. Der junge Mann, Absolvent der Nachfolgeorganisation der Arbeiter- und Bauernfakultät, war inzwischen Wissenschaftsredakteur bei Spiegel Online. Trotz dieser Karriere in der Ferne immer noch Patriot der Stadt, in der er geboren war.
    Aber der Dokumentarfilm von Thomas Heise zeigt doch, erwiderte Eiselt, daß im Verhältnis zu den industriellen Möglichkeiten dieses Landstrichs sich zuviel Bevölkerung darin aufhalte. Das sei ein Reservoir, antwortete Schäfer. Man werde noch staunen, für was es gut sei. Beide Vertraute aus der Zeit der sozialistischen Republik hatten viel Zeit für Reflexion zur Verfügung und waren keiner zentralen Leitung mehr unterworfen.
    Von einem Dramaturgen am Stadttheater Cottbus hatte Schäfer vor kurzem erfahren, daß die Schauspieler antiker Dramen in Athen die Stücke des Sophokles auf Stelzen aufführten. Die Größe der

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