Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
22. Nassauischen Infanterieregiments nicht wie Helden gestorben, sondern zufällig, massenhaft, durchschnittlich und ohne sinnvolle Tat, aufgrund von Führungsfehlern, Irrtum und durch unbekannte neue Waffentechnik umgebracht: wie bei einer Massenkarambolage von Kutschen oder bei einem Zugunglück.
Abb.: Meine Großeltern väterlicherseits.
Abb.: Caroline Louise Glaube, geborene Granier. Die Großmutter meiner Großmutter väterlicherseits. Bild von 1795.
Die junge Frau ist vor der Schreckensherrschaft im Jahre 1793 in den Südharz geflohen. Die Augenpartie entspricht der ihrer Enkelin Hedwig Kluge. Außerdem der meiner Schwester.
Abb.: Die Enkelin meiner Schwester.
Die unsichtbare Schrift
Meine Voreltern aus dem Südharz haben sich nicht träumen lassen, mit welchen fremden Genen sie heute in ihren Nachkommen zusammenleben würden, ja auch wir, die Gegenwärtigen, wüßten nicht (und haben keinen Einfluß darauf), wie sich in Zukunft die glücklichen Umstände (oder unglücklichen) in unseren Kindern verschaukeln. Die vor dem Terrorregime in Frankreich 1793 geflüchtete Französin Caroline Louise Granier prägte mit energischem »hugenottischen«, tatsächlich jakobinischen THYMOS einen Zweig der Familie. Diese Linie hatte keine Ahnung, daß sie sich später mit Genen aus dem Eulengebirge verknüpft finden würde. Nichts ahnten die Vorfahren vom Eulengebirge und die vom Südharz von den Zuflüssen aus Mittelengland und aus der Mark Brandenburg. Die sprachlichen, die genetischen und die kulturellen Gewohnheiten wirken unvereinbar. Daß solche Gegensätzlichkeiten keinen Bürgerkrieg in den Seelen und Körpern hervorrufen, sondern sich in jedem Pulsschlag, in jedem Herzschlag von Minute zu Minute einigen, ist das Abbild einer generösen, toleranten, das Menschenrecht erweiternden Verfassung, welche die Gene schreiben (auf ihren Inseln), anders als die Staatswesen. Insofern enthält ein Körper, zusammengesetzt aus der Vielfalt so gegensätzlicher Vorfahren, eine Art Zauberbuch. Keine Enzyklopädie kommt der Macht dieser Inschriften gleich, welche die Zukunft bestimmen.
Erinnerung, ein rebellischer Vogel
Siegfried Welp, Sohn des Kriminalobersekretärs Welp, war ein fünfjähriger Hüne mit eckigen Bewegungen seiner Glieder, von mir in seinem Willen nicht beeinflußbar. Er war mir zum Spielen zugeteilt.
Der Dachgarten unseres Hauses grenzte an ein schräg aufwärts strebendes Dach. Wir kletterten auf dieses Dach. In gerader Richtung hinauf zum Giebel konnte einer nur auf das Dachgärtchen zurückfallen, sich vielleicht weh tun. Seitwärts kletternd, nachdem das Dach bestiegen war, gelangte man jedoch auf einen Teil des Daches, der zum Hof hinab auf zehn Meter steil abfiel. Wer hier stürzte, hatte sein Leben eingebüßt.
Ich mahnte den Gefährten, sich nicht zu dieser Seite des Daches hin zu bewegen. Ich erinnerte mich, eine solche Mahnung ausgesprochen zu haben. Er, an die Schindeln geklammert, kletterte jedoch zu dieser Seite hin. Ich spielte »Trapper reitet auf Pferd«, rannte also im Kreis auf der Fläche des Dachgartens umher. An dieser Stelle beginnt eine Erinnerungslücke.
Ich sehe mich erst wieder in jenem Moment, in dem ich vor dem abgestürzten Siegfried stehe. Gerade noch hat er den Dachgarten erreicht. Schon sehr am Rand, der mit einem Gatter zum Abgrund hin gesichert ist. Hier hing, noch im Bereich des Dachgartens, mein Spielkamerad, der aber zuletzt mit mir nicht mehr gespielt hatte, kantig abgestützt, gesichert, einen der Arme unglücklich angewinkelt.
Später hieß es, daß sein Arm gebrochen war. Ich wurde abgeführt, beschuldigt, ihn angestoßen zu haben, während er auf dem Dach herumstieg. So Siegfrieds lügenhafte Aussage. Dann habe ich sein Leben gerettet, antwortete ich, denn er war dabei, seitlich aus der Sicherheit des Dachgärtchens auf die freie Dachfläche davonzukriechen. Ich »wußte« aber, daß ich ihn zu keinem Zeitpunkt gestoßen hatte. Ich hatte ihn auch nicht »an seiner Hose gezogen, um ihn zur sicheren Landung auf dem Dachgarten zu bewegen«. Das war alles bereits nachträgliche Diskussion, Frage und Antwort. Es ging um das Schmerzensgeld für den Armbruch. Die Sache wurde meinem Vater vorgelegt. Er befragte mich, vertraute meinen Antworten. Er lehnte ein Schmerzensgeld ab.
Ich wurde dann in die Wohnung meines »Freundes« bestellt. Die Frau des Kriminalobersekretärs befragte mich, da trat dieser erfahrene Verhörspezialist selbst ins Zimmer und befragte mich, auf
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