Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
nicht Nein sagte, aber auch nichts tat, die betreffende Beziehung zu besiegeln. Vielleicht ist dieses Partisanentum im Interesse des sogenannten »wirklichen Gefühls« (dessen, was man mit keinem Verstand erzeugen und nur finden und nicht suchen kann) eine tiefere Strömung, die durch den Ausfall traditioneller Erziehung in der Kinderladenzeit zutage tritt. Als Philip dann doch heiratete, wurde ihm rasch eine Tochter geboren. Im Scherz behauptet er, mit dieser Tochter, die auf ihn zustrebt, wann immer sie ihn sieht, seine eigene Kindheit nochmals in Reinschrift zu wiederholen. Ich reife nach, sagt er. Wenn er das Kind über seinen Kopf hält und das kleine Wesen sein dünnes Haar plündert, steht ein Grinsen in seinem Gesicht. Der Scherz ist ihm ernst. Zwei Generationen nachdem der Protest die Kultur auf den Prüfstand gestellt hat, sind im Verhältnis von Eltern und Kind in diesen Familien die traditionellen Gleichgewichte wiederhergestellt. Es handelt sich um Wechselgesänge, genährt von Zuwendung, wenig kollektivierbar, obwohl der zugrundeliegende GENERATIONENVERTRAG (nämlich die Zärtlichkeit zwischen Eltern und Jungen) ubiquitär gültig und in sehr frühen Zeiten verwurzelt scheint.
Reinschrift des Lebens
Sie und ihre Schwester waren etwas verwahrloste Kinder am Hofe einer egozentrischen, mit ihrer Autorentätigkeit und gesellschaftlichen Rangfragen befaßten Dame, die ihre Kinder herzlich gern hatte, aber keinen Nerv besaß, sich um sie zu kümmern. Sie lebten wie Hunde im Haushalt und versorgten sich selbst.
Die Herkunft der Familie war unklar, bevor sie in München ihr Domizil aufschlug. War sie polnisch, baltisch, russisch? Der Vater galt als verschollen. Alles war auf die machtvolle Mutter konzentriert. Die Heranwachsenden machten Fehler, weil auch nicht vorherbestimmt war, in welche Richtung sich ihr Leben entwickeln sollte. Körperlich waren die beiden Mädchen schmal gebaut, edle Rücken, Gesichter voller Ausdruck, breite Münder.
Immer wollte die ältere der beiden Schwestern es gut machen, ihr Leben sozusagen ins reine schreiben. Sie lebte für den Neuanfang. Da, wo sie ihr Herz hinwarf, wurde sie enttäuscht. In einer Liebesbeziehung, die von ihr ernst gemeint war, sah sie sich zurückgewiesen. Nach einer Abtreibung wollte sie im Beruf wiedergutmachen, was sie im Leben zu versäumen glaubte. Ihre Schulausbildung hatte sie abgebrochen. Jetzt machte sie das Extraner-Abitur, studierte Rechtswissenschaften. Bald war sie Berufsbeamtin.
Experimentell kam sie auf die Idee, mit einem Zahnarzt eine Art Vertrag einzugehen, ohne verwirrende Ehe oder Liebe ein Kind zur Welt zu bringen. Als Reinschrift für das Sternenkind, um das sie immer noch trauerte.
Das Verhältnis zum Kindesvater gestaltete sich katastrophal. Das Kind, dem sie alle Energie widmete, lotste sie mühsam durch die Schule; es nahm Drogen, war nicht leicht zu führen.
Das war in der Zeit nach der Wiedervereinigung. Nach ihrer Erkrankung an Krebs hatten die Ärzte sie wegen der stets neu sich bildenden Metastasen aufgegeben. Am Vorabend des Tages, an dem sie starb, wurde sie in ein neues, großes Zimmer in ein Seitengebäude der Klinik verlegt. Aussicht auf hohe Bäume und einen Garten. Hier und zu diesem Zeitpunkt nahm sie sich letztmals vor, ihr Leben in eine Reinschrift zu gießen. Zeitlebens hat sie sich auf so etwas vorbereitet.
Auf dem Weg zur Unentbehrlichkeit
Siegfried F., Jahrgang 1955, trat mit 24 Jahren in den Polizeidienst ein und wurde in die damals ausufernde Abteilung eingeteilt, die mit der Ermittlung von subversivem Terror befaßt war. Noch galten dort die Strategien des Chefs des Bundeskriminalamts Dr. Horst Herold, die auch von den Landeskriminalämtern und allen angeschlossenen Dienststellen angewendet wurden. Nach den Selbstmorden in Stammheim wurden die so ausgerichteten Planstellen ausgedünnt. F. ließ sich in die Abteilung zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität versetzen und hatte in den nächsten zwanzig Jahren bedeutende Erfolge in diesem boomenden Ressort aufzuweisen. Er übertrug Elan und Erfahrung der Rasterfahndung, welche Terroristen ausspähen sollte, auf die Phänomene der Wirtschaftskriminalität, eine Art cross-mapping, bei dem die schulmäßigen Methoden zweier Abteilungen sich mischten. Er gilt als unentbehrlich.
Ein Clan aus Niger sucht seine Lebensläufe zu verbessern
Ein fast weißhäutiger Clan aus der Republik Niger war in Athen eingesickert und zog bereits Verwandtschaft nach. Sie
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