Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
und ab schreitend. Meine Darstellung schien einen Widerspruch zu enthalten. Wie war Siegfried von den Schindeln, unter denen sich der Abgrund befand, zu der Dachfläche zurückgelangt, die seinen Sturz auf das Dachgärtchen gelenkt hatte. Hatte ich ihn nicht vielmehr, ehe er seitwärts kletterte, am Arm zurückgezogen, sein Gleichgewicht gestört oder an seinen unwilligen Beinen gerissen, so daß er sich aus dem Gefahrenbereich entfernte, dann aber, von mir gezogen, kopfüber in den Dachgarten stürzte? Die Arme voran, von denen einer brach? 5
Nachmittags hatten die Befrager mich soweit. Ich legte ein »Geständnis« ab. Der Kriminalobersekretär zeichnete es auf. Seine Frau unterschrieb die Aufzeichnung. Damit erzwangen sie ein Schmerzensgeld. Mein Vater beschämt. Er hatte auf meine Worte vertraut. Das hatte ich selbst ja auch. Wie hätte ich verhindern können, daß ich unter dem Druck geschulter Fragen von der Wahrheit abwich? Es waren mehrfache Willenskräfte auf mich angesetzt: die des Kriminalobersekretärs, die seiner Frau, die ihren Siegfried vergötterte, und die Siegfrieds, der selbstlos vor sich hin log. Nie wieder später ließ ich mich in dieser Weise überrumpeln. Nie wieder schätzte ich den Namen Siegfried. Niemand ist Herr seiner »korrekten Erinnerung«, wenn mehr als drei Dritte sie bestreiten. Der Zorn meines Vaters ist verraucht, das Schmerzensgeld war bald vergessen. Kein vermögenswirksamer Vorteil von 1936 hätte das Jahr 1946 überstanden. Dennoch ist in mir, fast 70 Jahre später, die Erinnerung wach, die meinem »Geständnis« widerspricht. Was immer Erinnerung ist, selbst wenn sie auf Täuschung beruht, ist sie unaustilgbar.
Ein Erforscher von Lebensgeschichten
In Harsleben bei Quedlinburg lebt ein Forscher, der sich mit der MORPHOLOGIE VON LEBENSGESCHICHTEN befaßt. Auf dieses Thema ist er gestoßen, nachdem er 1990 aus seiner Amtsstellung an der Akademie der Wissenschaft in der DDR (in der er bis zum Ende seines Arbeitslebens bleiben wollte) entfernt worden war. Von Haus aus ist er Physiker. Jetzt interessiert er sich dafür, was aus Menschen wird, wenn sie während ihrer Lebenszeit aus ihrer Bahn geworfen werden. Es gibt nämlich nicht einfach Kindheit, Schulzeit, Beruf und Alter, sagte er. Vielmehr krümmen und bewegen sich diese Elemente unter dem Druck der Zeitgeschichte. Bei Lebensgeschichten gibt es wenig Typik. Regelmäßigkeiten beobachtet man, aber zusammengesetzt sind sie aus purer Einzelheit.
Man nennt mich Karlchen, und ich höre das gern, sagt der Forscher, der eigentlich Willi Eiselt heißt. Meine Datsche in Harsleben habe ich neben einem ehemaligen Gutshof eingerichtet, der dann eine Kollektivwirtschaft war und jetzt verlassen ist. Den Obstgarten benutze ich mit, auch zwei Scheunen, in denen ich meine Unterlagen, meine Sammlung lagere, bis ich sie scanne und auf Festplatte speichere. Insofern lebe ich »zwischen den Zeiten«. Zweimal im Monat halte ich Gastvorträge an der VHS Bad Blankenburg.
Meine Forschungen sind international bekannt. Das ist eine Sache des Netzes. Im Austausch bin ich mit Mitarbeitern des Heimatblattes Zwischen Harz und Bruch sowie mit dem Historiker Werner Hartmann aus Halberstadt, der ebenfalls über Unterlagen verfügt. Das dürfen Sie nicht so verstehen, als seien wir Lokalforscher hier nicht hinreichend informiert über die Welt jenseits der Horizonte.
Grundsätzlich: In einer Welt, in der 4,2 Milliarden Menschen auf dem Planeten lebten (davon ²⁄³ aus unserer europäischen Vorstellungswelt weggepackt, verstaut unter Vorurteilen in den Brutöfen Asiens, Afrikas, Lateinamerikas), ist ein Lebenslauf für das Selbstbewußtsein ein anderes Gefäß, als wenn sieben Milliarden Menschen auf der Erde um Geltung ringen. Durch die hohe Zahl verringert sich die Bedeutung der Person. Interessanterweise gilt das nur bedingt für die Region, in welcher ich selbst lebe. Noch 1988 drängte sich eine Menschenmenge in Quedlinburgs unterversorgten HO -Läden. Heute ist das Land entvölkert.
Im März dieses Jahres klumpten die Ereignisse: Japan, Ägypten, Libyen, Syrien, Jemen. Aber die Hauptereignisse täuschen. Es geht um Geburten im Kreiskrankenhaus; ein Virus, das seinen Umtrieb im Darm beginnt, dann die Nasennebenhöhlen erfaßt und die Bronchien im gesamten Umkreis, so daß Ärzte den Befund mit Asthma verwechseln. Außerdem geht es um die Zeitumstellung, um Wahlen in Sachsen-Anhalt: von allem zuviel, auch wenn wenig relevant im Weltmaßstab. Einer
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