Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Tragödie erforderte hochaufgeschossene Protagonisten.
Septemberkinder 1990
Kurz vor den Feiern zu Deutschlands Wiedervereinigung kamen die Septemberkinder zur Welt. Sie entsprangen Entschlüssen, Begegnungen, dem Bindungswillen des Dezembers 1989, eines Monats von großer Besonderheit für diejenigen, die damals am Geschehen teilhatten.
In Privatarbeit und unter Wahrung des Datenschutzes hatte Stadtobersekretärin Krüger vom Standesamt Berlin Mitte die Zahl der Geburten in den Bezirkskrankenhäusern des Landes Brandenburg und in der Hauptstadt der DDR , einschließlich des Entbindungsheims der Charité, überprüft. Bis Mitte August 1990 und nachhaltig im September ergab sich eine eindrucksvolle Glockenkurve an zusätzlichen Geburten gegenüber den Jahresdurchschnitten der fünf Jahre davor und danach. So war ein Merkmal der Zeitgeschichte entdeckt, das die subjektive Seite der Ereignisse beleuchtete.
Ein solches Septemberkind von 1990, fuhr die Standesbeamtin fort, hätte als zehnjähriges Schulkind die Jahrtausendwende erlebt. Der Ernst des Lebens, also Berufswahl und Entscheidung über den weiteren Weg, steht 2011 bevor. Neun Jahre später dann wären die Frauen dieser Monatscrew, die noch keine Kinder hätten, von Unruhe erfaßt. Das hat, so Frau Krüger, nichts mit einem Drängen der Gene zu tun, wie oft behauptet, sondern entspringt der Seelentätigkeit, einem Fortschrittsdrang, in dem das Vertrauen auf bessere Verhältnisse (nur weil so etwas 1989 versprochen war) sich auch gegenüber allen Eindrücken des zeitgenössischen Phlegmas durchsetzt. Die Standesbeamtin Krüger lehnte den »statistischen Blick« ab. Sie stützte sich auf Lebenserfahrung. Diese hatte sie vor sich in Gestalt der Paare, die täglich im Amt erschienen und beim Vergleich ihrer Lebensläufe mit ihrem Auftritt anders aussahen, als es ein Soziologe angenommen hätte. Frau Krüger findet ihre Arbeit in der Mitte der Bundeshauptstadt äußerst anregend und schreibt an einem Roman. Eine Besonderheit dieses Manuskripts besteht darin, daß nicht einzelne Protagonisten im Rahmen einer Handlung dargestellt werden, sondern (ähnlich einem kommentierten Adreßbuch) eine Aufeinanderfolge gestifteter Ehen aufgeführt wird, bei denen jedesmal die Frage, was in zehn Jahren mit diesem Paar sein wird, durch Vermutungen erschlossen wird. Das weiß ich ja selbst auch nicht, sagt sie, aber ich habe einen Eindruck vor Augen, wenn die zwei mit Trauzeugen, Anhang und Eltern vor mir auftreten. Und ich vermag die Neugier meiner Leser anzufachen, wenn ich den Blick vom gegenwärtigen Moment, dem ich zusehe, auf die Zukunft dieser Menschen richte.
Es hat sich gezeigt, daß einige von Frau Krügers »Romanhelden«, deren Lebensweg sie durch Austausch von Postkarten verfolgt, bereits weite Strecken auf der Erde zurückgelegt haben. Ein solches Paar gelangte bis Rio de la Plata, ein anderes in ein Provinznest in Sinkiang, ein weiteres fand sie ausgewandert nach Australien. Frau Krüger glaubt aus den Gesichtern herauszulesen, die täglich vor ihr stehen: »Die Welt wird wieder ein Abenteuer.« Diese These ist der Extrakt ihrer 300seitigen Ausarbeitung.
Glückliche Nachreife
Philip Berneis, Jahrgang 1966, war ein Kind, an dem die vehement auftretende lebensrevolutionäre Bewegung des studentischen Protests ihre Kräfte erprobte. Viele Hände waren in den Kinderläden engagiert. Den Eltern ließ der politische Kampf wenig Zeit. Das aber war (nach Auffassung der Genossen) insofern nicht relevant, als nunmehr die Erziehung zur Zone der kollektiven Lust und nicht nur ins Reich der Anstrengung gehörte.
Bei den Kindern keine äußerlichen Wunden. Auch da nicht, wo pädagogisch Unkundige sie betreuten. Aber die natürliche Fähigkeit, entschieden Nein zu sagen, schien durch die häufige Aufforderung an die Kinder, SICH ZU VERWEIGERN , überlagert und gehemmt. Philip Berneis sagte selten Nein. Nicht zu Frauen, nicht zur Berufswahl, nicht zu den Veränderungen in der Welt.
In der Schule, wo er nirgends Nein sagte zu den Ablenkungen, den Partys, dem Spaß in der Pause, behütete ihn aus einem Abstand die Mutter, welche – ganz unkollektiv und eher nicht-kollegial – sich einen Sitz im Elternbeirat verschaffte und auf die Lehrer einwirkte, den Sohn zu fördern. Immer hatte der Nicht-Neinsager Frauen in seiner Nähe, die ihn förderten. Förderung anzunehmen schien ein Ergebnis der Kinderladen-Erziehung.
Philip verweigerte lange jede engere Bindung, indem er zwar
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