Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Spezies, wenn sie nicht mehr Menschen wären? Welche Sprachen hätten sie dann? Für Antworten reichten die Ergebnisse der Datenmasse zunächst nicht aus. In zwei Endresultaten dagegen ergab sich ein Bild (wenn auch wenig einer »Vorstellung« entsprechend): Es schien, daß die Nachfahren in zwei Millionen Jahren keine Körper mehr besäßen, sondern als eine Art Belag oder dünne Schicht wie zwischen zwei Kristallflächen, den sie umgebenden BEZIEHUNGSNETZEN (relations), auflagen.
Wären das dann noch Menschen? wurde aus der Gruppe gefragt. Vieles wies darauf hin, daß sie wohl keine Sprache mehr hätten, vor allen Dingen nicht unsere Art und Weise, sich durch ein Hirn, den Atem und den Kehlkopf zu äußern. Dann könnten sie doch, wurde eingewandt, immer noch schreiben, klicken oder funken. Es schien aber, daß sie kein individuelles Hirn mehr besäßen. Und kein anderes Sinnes- oder Verständigungsorgan, das sich wenigstens in einem stenographischen, verballhornten Englisch (wie immer verändert es nach so langer Zeit wäre) würde ausdrücken können, und sei es nur rituell und an Festtagen, sozusagen als Luxus. Nein, schlußfolgerte Prof. Stafford: Der Kern sei ja, daß sie sich nicht individuell, sondern als eine Art Rasen, Matte oder extrem dünner Teppich (als Akzidens) zum Geschehen verhielten. Aber sie existieren? Offensichtlich. Nach dem achten Resultat und dem dieses bestätigenden neunten gab es sie zu so später Stunde: sprachlos.
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Durch sie selbst können wir keine Mitteilung von ihrer Existenz erhalten?
Oder wir besitzen sie längst.
Sie meinen, diese Künftigen füllen unsere früheren Zeiten aus?
Wir glauben, daß sie das könnten, wenn sie so weit gelangt sind, daß 200 Millionen Jahre Zukunft sie nicht umgebracht haben. Das ist schon eine bemerkenswerte Potenz.
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Anerkennend ruhten die Blicke der Mitarbeiter auf der Projektleiterin, die das sagte. Es äugten die Monitore.
Abb.: Ernst Kluge. Weihnachten 1914.
Abb.: Otto Kluge, Hedwig Kluges Lieblingssohn, gefallen am 22. August 1914 bei Bertrix.
Die Niedermetzelung des 2. Nassauischen Infanterieregiments Nr. 88
Am Morgen des 22. August 1914 ziehen die deutschen Truppen der 5. Armee durch die Ardennen in Richtung Westen. Das Gelände ist waldig und hügelig. Es herrscht dichter Bodennebel. Die Führung entdeckt zu spät, daß der deutschen Armee frontal eine französische Armee entgegenmarschiert. Bei Bertrix und Neufchâteau kommt es zum Zusammenstoß. Die Kämpfe ziehen sich bis zum nächsten Tag hin. Noch immer haben beide Seiten unzureichende Sicht. In einem Waldstück und auf einer bergigen Fläche wird das zweite Nassauische Infanterieregiment Nr. 88 von einem französischen Angriff überrascht, der von den neuen, auf dem Balkan erprobten, den Deutschen unbekannten französischen Schnellfeuerkanonen in vorderer Linie unterstützt wird. In kurzer Zeit fallen 900 Soldaten des Regiments und neun der 32 Offiziere. Der Regimentsführer wird abberufen.
Das Schlachtfeld wird zwei Tage später von Pionieren einer Nachbardivision aufgeräumt. Es wird berichtet, daß die Toten des schon am 22. aus dem Nebel heraus angegriffenen zweiten Bataillons (Standort Hanau) auf dem engen Fleck, an dem sie sich zum Angriff stellten, von anderen Erschossenen gehalten, in einem Winkel von 60 Grad aufrecht standen. Also habe es sich nicht um einen »Haufen von Toten« gehandelt, sondern um eine »Mauer«. Das habe die Identifikation der Einzelnen behindert.
Abb.: Sterbeurkunde des Bruders und »role models« meines Vaters. In der »Mauer der Toten« nicht individuell unterscheidbar, obwohl er unverwechselbar ist.
Sie weinte bitterlich, als sie hörte, daß es für Eltern keine Verkehrsverbindung zur Front gibt
Im ersten Impuls wollte meine Großmutter väterlicherseits, Hedwig Kluge, geborene Glaube, auf die Nachricht, daß ihr Erstgeborener Otto gefallen sei, den Zug besteigen, nach Belgien reisen und dafür sorgen, daß man den Toten ordentlich begräbt. In der Stadt hieß es, viele Gefallene seien in Massengräbern verscharrt. Als sie hörte, daß es für Eltern keine Verkehrsverbindung zur Front gab, weinte sie bitterlich.
Sie empfand sich selbst und ihren Erstgeborenen nicht als Personen wie »Alle & Jeder«. Die übrigen Geschwister und auch ihr Mann duldeten es, daß der Erstgeborene vorgezogen wurde, weil sie alle diesen waghalsigen, lebenshungrigen 26jährigen, ihren »Helden«, liebten. Nun waren die Soldaten des
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