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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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betrieben eine Autoreparaturwerkstatt in einem Vorort der Metropole. Inzwischen, ähnlich einem Wetterumbruch, der den Herbst vom Sommer abgrenzt, hatten die Restriktionen, welche die Schuldenkrise über das Land brachte, mehrere Ansätze des Clans zunichte gemacht. Sie verloren hier an Einkommen, an Chance. Hätten sie ordentliche Pässe gehabt, wären sie nach England ausgereist und hätten ihr Glück dort versucht. Mit griechischen Freunden, mit denen sie sich berieten, prüften sie Wege der Auswanderung.
    Es gab auch Ideen, auf einfacher Stufe der Selbstversorgung im Inland neu anzufangen: ein Tal zu finden, einen Kredit zu nehmen, sich einzukaufen und Landwirtschaft oder wenigstens einen Garten zu betreiben. Das Anfangskapital (als sie in der Nähe des Parnaß das Tal, das ihnen gefiel, gefunden hatten) vermochten sie nicht zu erlangen. So konnten sie kein Gemüse pflanzen, keine Schafe züchten. Es waren auch keine Zuständigen zu ermitteln (in der überbesetzten Bürokratie des Landes), die über das Land hätten verfügen oder helfen können, einen Berechtigten zu finden, dem sie ein Angebot hätten unterbreiten können, um dann später nach einem Kredit zu fahnden.
»Ein Leben namens Gucki«
    Sie warf sich auf das Flachbett hin und sagte: Ich bin noch ein Kind! Da war sie 47 Jahre alt. Sobald eine ihrer Ehen scheiterte – und sie scheiterten alle –, kehrte sie zur Mutter zurück. In der Intimität der Wiener Familie hatten alle ihre Namen. Sie hieß, weil ihre Augen, die aus dem Kinderbett heraufblickten, intensiv waren, »Gucki«. So hieß sie mit 19 und mit 30. Lange Zeit war sie unbeachtete, zweite Tochter. Die Aufmerksamkeit der Eltern galt ihrer älteren Schwester, der Erstgeborenen, deren Geburt stärker als der Ehering und die Zeremonie vor dem Priester die so ungleichen Eheleute miteinander verbunden hatte. Guckis Machtergreifung erfolgte nach dem Tod dieser Schwester, deren Diphtherie nicht sogleich erkannt wurde. Auch gab es in den Jahren der Jahrhundertwende noch kein Gegenmittel gegen diese tückische, die Luft abschneidende Infektion. Nach dem Begräbnis des Wunschkindes widmeten sich die Eltern ganz der verbliebenen Prinzessin.
    Das Weihnachtsfest vor dem Todesjahr ihres Vaters beging die Familie im Savoy Hotel in New York. Ihr Vater erlebte in dieser Zeit einen Höhepunkt seiner Laufbahn, in den Feiertagen aber auch hier Pause. Vater und Tochter, in den Central Park hinausgeschickt, damit im Appartement Ruhe ist, gehen dort einher, tollen, bewerfen sich mit Schnee, ein liebendes Paar. Beobachtet von einer Zeugin, der Mutter, im siebenten Stock des Grandhotels.
    Als »das Kind« 80 war, entkalkten die Knochen. Brüche in rascher zeitlicher Folge. Gips am Bein. Der früher lebhafte Umsatz im Körper auf Sparflamme. Sie aß gerade noch genügend, um für die Medikamente eine Grundlage zu schaffen.
Sieben Generationen begründen eine Region
    In Witten steht ein Haus. Das haben die Kinder einer aus Polen eingewanderten Bergarbeiterfamilie ihren Eltern gebaut als Dank für den Einsatz, der den Clan so weit nach Westen gelangen ließ. In einem Anbau, den sie hinzufügten, wohnten sie selbst. Aus dieser zweiten Generation heirateten zwei Töchter Werkzeugmacher aus Olpe. Die dritte, vierte und fünfte Generation hatte gespart und gemeinsam mit einer ganzen Klasse von Arbeitern jener Jahre ein Sozialkapital von konsolidierten Renten und Löhnen erwirtschaftet. Sie hatten auch in ein politisches Kapital eingezahlt, in die Sozialdemokratie. Beide Kapitalien wurden im Ersten Weltkrieg glanzlos verschleudert. So mußten die nächsten zwei Generationen unter Zuarbeit der Älteren, die keine Chance hatten, sich zur Ruhe zu setzen, auf die Krisen und Umverteilungen der zwanziger Jahre antworten.
    Stets aber blieben die Kohle und ihr Abbau ein Element des Gelingens und der Erneuerung. Bewährung in der Rüstungsproduktion und im Krieg. Vehemente Verteidigung der Betriebe gegen Reparationen, wenn die Belegschaften der metallverarbeitenden Industrie sich verteidigten und die Bergarbeiter den Druck nutzten, den sie durch Bremsen, Streik, vor allem aber durch Drohung mit Streik auszuüben vermochten. Dann hat die aus dem Krieg zurückgekehrte sechste und die heranwachsende siebente Generation den Einsturz der Renditen im Bergwerkswesen, den »Strukturwandel des Ruhrgebiets« miterlebt. Das Haus, das für die erste Generation gebaut wurde, und mehrere Nachbarhäuser sind immer noch von Angehörigen des Clans

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