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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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realen Industriegelände befinden. Wenn dem jungen Jongleur, dessen Tastendruck über die Existenz von Unternehmen entscheidet (sobald man ihn mit dem Tastendrücken seiner Kollegen verknüpft), der Magen knurrt, macht er sich auf, mit dem Fahrstuhl in 20 Minuten (mit Umsteigen) den Boden der Straße zu erreichen. Dort finden sich außer den Zigarettenecken, welche diese moderne Agora besitzt, Buden und Stände, an denen der junge Mann eine Mahlzeit aus der Dritten Welt ergattern kann. Heute wählt er ein Gericht aus Bangladesch. Die aus diesem Land stammende Arbeitsimmigrantin, die ihm beim Bezahlen zunickt, könnte er ansprechen, sie vielleicht in sein Appartement aufnehmen, ein Leben mit ihr beginnen, Nachkommen zeugen; er könnte sie als Held gegen alle Unwirklichkeit der Welt verteidigen.
    Hier kommen Elemente der Weltgesellschaft auf wenigen Quadratmetern zusammen, die einander in den Computern im 46. Stock nicht berühren. Ein in Abwicklung befindliches Land wie Bangladesch (ehemals britische Kolonie, regelmäßig von Überschwemmungen geplagt) besitzt keine Chancen bei einer Investmentbank, sofern es sich um seine Einwohner handelt.
    Daß sich Romeo und Julia an diesem Mittag näherkommen, dafür fehlt die Zeit. Der junge Mann braucht nach dem Imbiß 20 Minuten Zeit für den Aufstieg zu seiner Schaltkammer, und was er an Zeit verbraucht hat, um sein physisches Verlangen zu stillen, war schon zuviel, gemessen an der Perspektive, wie viele Vorgänge seines kleinen Ressorts inzwischen unbeobachtet blieben und wie viele Taten ungetan. Oft sitzt er stundenlang vor seinem Gerät, ohne die Knöpfe zu berühren, dann muß er plötzlich in Minuten Milliarden Stränge bewegen, auch wenn er vielleicht nur bei einem davon Autor ist, bei den anderen Mittäter.
Zungenlust, Empathie und impartial spectator
    In der Zeit der Aufklärung, in welcher Sklaven aus Afrika die Zuckerplantagen auf Haiti bearbeiteten und der Zucker in komplizierten (aus Europa gelieferten) Maschinen raffiniert und als Luxusartikel nach England verschifft wurde, war in einem der Salons von Edinburgh eine große Schüssel mit den süßen Kristallen auf den Tisch gestellt worden. Der Philosoph David Hume umstrich den Nachmittag über diesen Lustkübel und hörte nicht auf, sich Zuckerstücke in den Mund zu schieben. Das entsprach nicht der Erwartung, derentwegen er eingeladen war. Er trug zur Konversation nichts bei. Bis der Gastgeber, der auch um die Innereien des Philosophen fürchtete (damals galt Zucker in großen Mengen als Gift), das Gefäß mit den Süßigkeiten entfernen ließ.
    Jetzt, getrennt von den begehrten Objekten, begann Hume zu formulieren. Es ging um eine Widerlegung des Satzes von Thomas Hobbes: homo homini lupus . Hume stützte sich auf ein Gespräch, das er kurze Zeit zuvor mit seinem Freund Adam Smith über das Thema geführt hatte. Menschen seien grausamer und wesentlich ungeselliger als Wölfe, sagte Hume. Menschen unterscheide aber von Wölfen generell, daß sie zu keiner Einheitlichkeit ihres Charakters kämen. Vielmehr beruhe die Chance von Menschen darin, daß sie stets durch zwei disparate Eigenschaften ausgezeichnet seien, die miteinander ringen. Das sei Wölfen unmöglich. Menschen (und keiner unterbrach Hume, der so konzentriert lehrte, wie er zuvor Zucker verzehrt hatte) verfügten nämlich über den BLICK DES UNPARTEIISCHEN BEOBACHTERS und – gegensätzlich dazu – über den zwingenden Impuls zur EINFÜHLUNG IN DIE ANDEREN . Das seien zwei »Zangen des Gefühls«, welche die Welt zu fassen in der Lage seien. Anders gesagt: Jede Arbeit verlange ein »Sich-etwas-Gegenüberstellen« und ein »In-sich-Bringen« (es hätte »An-sich-Bringen« heißen müssen). Das sei der Apparat der Erkenntnis. Das sei auch in jeder WERKSTATT der Boden des Prozesses. Die Gesellschaft empfand Lust an den Ausführungen des Gelehrten, den sie kurz zuvor noch als Naschegeist despektierlich beobachtet hatte. Sie sahen seiner »Arbeit des Gedankens« zu, bei der er sich immer weiter von einer Sache entfernte, um sich ihr um so inniger zu nähern.
    Unter den Gästen des Salons befanden sich Sklavenhändler, Physiker und Erfinder. Für ihre tägliche Praxis folgte aus Humes Einsichten nichts. Es war aber deutlich, daß die BEWEGUNG DER EINSICHT selbst etwas war, dem sie gern zusahen und von der sie naschen wollten. Sie alle fühlten sich der PRODUKTIVEN KLASSE zugehörig. Grundbesitzer fehlten in dieser Gesellschaft. Eine Flut von sich

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