Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Sonderzug des US -Präsidenten Roosevelt fährt durch die Vororte von Chicago. Schlote verdampfen ihre Wolken in die hereinfallende Dämmerung. Flach am Horizont zuckende Feuer. Das ist die Industrie von 1943. Derzeit produziert sie unheilbringende Rüstungsgüter.
    Es wird schwer sein, nach dem Krieg diese kompakte Gewalt auf Staubsauger, Kinderwagen, Regale und Thermosflaschen zurückzuführen.
    Zu den Feiern anläßlich seines fünfzigsten Geburtstags (die Festlichkeiten sollen wegen der Budgetkrise bescheiden ausfallen) fährt US -Präsident Obama (mit dem Jahrhundertblick betrachtet: WENIG SPÄTER ) auf der gleichen Strecke mit seinem Sonderzug. Nichts ist durch die Zugfenster zu sehen von Schornsteinen und den Lichtern oder Feuern einer Tag und Nacht arbeitenden Produktion. Auf dem Planeten werden im Jahr 2011 mehr Produkte erzeugt als 1943, aber anderswo als hier. Wo liegen die Produktionsstätten der Welt? Wie kartieren die Demographen die VÖLKERWANDERUNG DER ARBEIT? Oder ist sie in einer Felsspalte verschwunden?
Rückverwandlung von Soldaten in einfache Arbeiter
    In der Rasputiza, Rußlands sechswöchiger Schlammperiode im Herbst, blieben unweit von Moskau die deutschen motorisierten Streitkräfte im Gelände stecken (in einer Materie, die weder Wasser noch Erde war). Die als Uniformträger verkleideten Eroberer verwandelten sich in wenigen Tagen zurück in das, was sie waren: Arbeiter. Mit Seilen und Muskelkraft suchten sie ihre Fahrzeuge aus dem durch Regengüsse gefütterten Matsch herauszuziehen. In Richtung irgendeines Stücks von festem Boden, wo sie dann unbeweglich wie auf Inseln standen. Gelegentlich wurden auch Panzer als Traktoren verwendet (landwirtschaftliche Fahrzeuge, aus denen in der technischen Evolution die Panzer entstanden waren), um andere Fahrzeuge herauszuziehen.
    Jetzt war der Hochmut des Angriffsbeginns vom 22. Juni 1941 verflogen. Die Soldaten waren demütig, also im Besitz einer Geisteshaltung, die den Sieg verleiht, wäre sie hier nicht zu spät gekommen. Nachdem der Schlamm überwunden war, gab ihnen der Frost den Rest. Gegen den half nur Hüttenbau, kein Knopfdruck auf metallene Röhren, die Feuer speien, kein Hieb auf eine Kupplung, wenn das Öl eingefroren ist.
Gefügeartige Arbeit
    Einige der Panzerfahrer und Panzerreparateure, die vor Moskau festlagen, stammten aus Iserlohn. Cousins und Arbeitskameraden von ihnen waren in der eisenverarbeitenden Industrie des Ruhrgebiets tätig. Dort gab es Arbeitsvorgänge, bei denen 24 oder mehr Männer (jeder genau auf die Bewegungen aller anderen achtend) einen komplexen Arbeitsvorgang steuerten und bewältigten: Man nennt das die GEFÜGEARTIGE ARBEIT . Wenn einer seine Kräfte zu schwach oder zu stark einsetzte, wirkte sich das auf den Einsatz aller aus.
    Ein solch artistisches (und »gesellschaftliches«) DURCH einander und MIT einander gehört in der Evolution der Arbeitsvermögen zur Spitzenleistung. Inzwischen haben die japanischen Roboter diese Kombination von Kraft und Feinsteuerung erlernt. Von ihnen lernen global die anderen Maschinen. Wo sind die Arbeiter von Castrop-Rauxel geblieben?
Ein grauer Montag
    Gegen 14 Uhr soll die Raumfähre zu ihrer letzten Fahrt starten, die sie zur Weltraumstation bringen wird. Noch einmal wirken alle Abteilungen der NASA in ihrem riesigen Kontrollraum zusammen. Gleich, ob sie sonst in ihren Dienstzimmern rivalisieren, hier im Großraum fügen sie ihre Eingaben und Daten kooperativ zusammen. Es sind ca. 6200 Synchronpunkte, die aufeinander ansprechen, während der Countdown läuft. In diesem Verlauf sind die Erfahrungsgehalte eingebaut, die aus bitteren Katastrophen stammen. Dies ist das letzte Mal, daß dieses BEZIEHUNGSREICHE GANZE zusammenwirkt. Nur für das Museum oder für ein Erinnerungsmanöver könnten sie das künftig wiederholen. Ein Teil ihres WISSENS ist ab morgen unbrauchbar, weil es nur in der Großgruppe ausübbar ist. Dieser Ausschnitt des GESAMTARBEITERS verschwindet und müßte, wollte man einst zum Mars gelangen, von Anfang an und mit zahllosen neuen Irrtümern, aus denen gelernt werden könnte, neu aufgebaut werden. Draußen hebt sich inzwischen der Dunst. Gegen Mittag wird der Himmel klar sein.
Röntgenblick auf die »unsichtbare Hand«
    Der Röntgenarzt Fred Siegloff, mit Sitz im Zentralkomitee, unterhielt, parallel zu dem Projektemacher Manfred von Ardenne, mit dem er zusammenarbeitete, ein Laboratorium, in dem man die »unsichtbare Hand« durchleuchten konnte, welche die