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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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sich dem nicht zu widersetzen. Sie haben harte Strafen. – Hat Euch Johannes zum christlichen Glauben bekehrt?«
    »Er rezitierte irgend etwas in lateinischer Sprache.«
    »Armer Kerl. Er ist noch nicht lange hier. Ein ehemaliger Priester, der den Verstand verloren hat, und nun glaubt er, der Evangelist Johannes zu sein; er singt Tag und Nacht aus den Evangelien und will alle bekehren. Typischer Fall von Paranoia. Wäre interessant zu wissen, wodurch sie ausgelöst wurde. Es gibt Augenblicke, da flucht er wie ein Steinschleifer. Im übrigen ist er harmlos.«
    »Er sagte, niemand dürfe nachts auf die Straße, das sei gegen das Gesetz.«
    »Stimmt«, antwortete Dr. Sargent. »Es halten sich auch alle daran, außer Johannes. Er genießt eine Art Sonderstellung. Warum weiß niemand.«
    Es lag Anne auf der Zunge zu fragen: Warum sind Sie eigentlich hier, Doktor? Sie machen doch einen leidlich normalen Eindruck? Ja, es drängten sich noch viele Fragen auf: Warum machen Sie sich keine Gedanken, woher ich eigentlich komme, mitten in der Nacht? Warum unterhalten Sie sich mit mir, als hätten Sie mich seit langem erwartet? Warum interessieren Sie sich nicht näher für meinen geistigen Zustand? Aber all das fragte Anne von Seydlitz nicht. Sie wagte es nicht.
    »Sie stellen Euch eine Diagnose«, begann Dr. Sargent von neuem, »und es empfiehlt sich, das Krankheitsbild dieser Diagnose zu erfüllen.« Anne kam es so vor, als würde diese Frau ihre Gedanken erraten. »Tut ihnen den Gefallen«, zischte sie laut, »dann geht es Euch nicht schlecht hier. Andernfalls …«
    »Andernfalls?«
    »Hier ist noch keiner ohne Zustimmung von oben herausgekommen! Ich habe jedenfalls noch von keinem Fall gehört.«
    Nach diesen Worten entstand eine lange Pause, in der jeder über den anderen nachdachte. Schließlich faßte Anne sich ein Herz und sagte fragend: »Sie sind schon lange hier, Doktor?«
    Dr. Sargent ließ die Augen sinken, und Anne befürchtete, sie hätte mit ihrer Frage einen wunden Punkt berührt, der geeignet sei, Dr. Sargents psychischen Zustand ins Gegenteil zu lenken; aber nach einer Weile antwortete die Frau resigniert, aber gefaßt: »In Leibethra lebe ich seit zwölf Jahren. Hier allerdings« – und dabei klopfte sie mit dem Zeigefinger auf ihre Bettkante – »bin ich erst seit einem Jahr. Schizophrenie, behaupten sie. Hört Ihr, Schizophrenie! In Wirklichkeit paßten meine Forschungen nicht mehr in ihr Konzept.«
    Plötzlich legte Dr. Sargent ihren Finger auf den Mund. Auf dem Flur hörte man Schritte. »Kontrollgang«, sagte der Doktor, »schnell unter die Decke!« Und ehe sie sich versah, hatte Dr. Sargent sie auf ihr Bett gedrückt und beiden ihre Wolldecke über den Kopf gezogen.
    Im selben Augenblick traten zwei uniformierte Wächter in den Raum und ließen ihre Blicke über die Schlafenden schweifen. Sie trugen lederne Helme und Koppelzeug, an dem Schlagstock und Pistolentasche befestigt waren.
    Als sie den Raum verlassen hatten, zog Dr. Sargent die Decke zurück und sagte: »Jetzt haben wir Ruhe bis morgen früh. Es empfiehlt sich nicht, sich mit diesen Kerlen anzulegen. Brutale Menschen sind das, glaubt mir, richtige Bluthunde.«
    Anne erhob sich. Die kurze Zeit mit Dr. Sargent unter der Decke hatte ihr tiefes Unbehagen bereitet. Sie ging zu ihrem Feldbett und legte sich nieder. Nun auf einmal machte sich die Anstrengung bemerkbar, die der Weg hierher gefordert hatte, und ihre Glieder wurden schwer. Steif und stumpf lag sie da und lauschte, Anne lauschte in die Nacht, weil sie nicht glauben konnte, daß sie in einer Stadt ohne Geräusche lebte.
    So dämmerte sie vor sich hin, nur halb dem Schlaf ergeben, weil ein Teil ihres Gehirns nicht aufhören konnte sich vorzustellen, wie der kommende Tag verlaufen würde, nicht aufhören konnte zu sinnieren, ob sie nicht besser davonliefe und sich versteckte. Aber dazu war sie viel zu müde. Die Schwere in ihrem Körper drückte sie auf das harte Feldbett, und Anne hatte ein Gefühl wie im Traum, wenn man fortlaufen will und nicht kann, weil die Glieder ihren Dienst versagen.
    So lag sie zwei, drei Stunden zwischen Qual und Erholung, als von draußen eine Stimme näher kam, weinerlich klagend; die Stimme eines Mannes wiederholte ein und dasselbe Wort. In der eisigen Stille empfand Anne das nicht enden wollende Rufen ungewöhnlich genug, aber mit einem Mal war ihr, als rufe jemand ihren Namen.
    Anne fuhr auf. Sie lauschte mit offenem Mund, und jetzt hörte sie es

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