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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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denen, die sie und ihre Angst in ihre Machenschaften eingeplant hatten.
    »Na, seid Ihr wieder klar?«
    Anne blickte nach hinten. Es war Dr. Sargent, die, auf einen Unterarm gestützt, interessiert Annes Bewegungen verfolgte.
    »Was haben Sie mit mir gemacht?« erkundigte sie sich besorgt und zupfte nervös an ihrem Kopfverband.
    »Ihr solltet lieber fragen, was Ihr gemacht habt!« geiferte Dr. Sargent zurück. »Ihr wart im Delirium und wolltet mit dem Kopf durch die Glasscheibe. Ihr hättet Euch den Hals abgeschnitten, wenn ich Euch nicht im letzten Augenblick weggezogen hätte. Dazu habt Ihr andauernd von einem Guido gefaselt.«
    Der abfällige Tonfall in ihrer Stimme machte Anne wütend:
    »Soll ich Ihnen danken, weil Sie mir das Leben gerettet haben?« fragte sie herausfordernd.
    »Ich bin Dr. Sargent«, antwortete die Alte kühl, »es ist meine Pflicht, Leben zu retten.«
    »Danke«, sagte Anne.
    »Schon gut.«
    Das Licht in dem Raum war gedämpft, aber doch so hell, daß man alles erkennen konnte. Anne blickte zum Fenster. »Dr. Sargent«, rief sie leise, »das Fenster!«
    »Was ist mit dem Fenster?« fragte Dr. Sargent gelangweilt.
    »Ich dachte, ich hätte mit dem Kopf die Glasscheibe zertrümmert?«
    »Habt Ihr auch!«
    »Aber die Glasscheibe ist doch ganz? Wollen Sie sagen, daß die Scheibe schon wieder repariert ist?«
    »Ja, das will ich sagen. Schließlich habt Ihr vier Tage geschlafen!«
    »Wie bitte?«
    »Zwei Tage und zwei Nächte. Doktor Normann ist da nicht zimperlich. Niemand hier ist zimperlich, wenn es darum geht, einen Insassen der Anstalt ruhigzustellen. Valium wird hier kanisterweise verbraucht.«
    Anne streifte die Ärmel des langen weißen Hemdes zurück, das man ihr übergestülpt hatte. Beide Armbeugen wiesen Einstiche auf.
    »Ihr wundert Euch?« fragte Dr. Sargent. »Habt Ihr geglaubt, die Leute hier seien von Natur aus so friedlich? Seht Euch doch einmal um. Schaut Euch jeden einzelnen genau an, jeden einzelnen.«
    Wie unter Zwang erhob Anne sich von ihrem Feldbett und ging mit langsamen Schritten durch den Schlafsaal. Da lagen Frauen mit Akromegalie, mit großen roten Köpfen und überproportionierten, derben Gesichtszügen, als wären sie aus rohem Holz geschnitzt; Mißgeburten sah Anne, mit verdrehten Gliedern und blödem Grinsen und andere von einer Statur, die Zweifel aufkommen ließ, ob sie sich überhaupt selbst fortbewegen konnten. Annes Herz klopfte wild, und das Blut hämmerte in ihrem Schädel. Sie war verwirrt.
    An Dr. Sargents Bett angelangt, kniete sie nieder und flüsterte: »Das ist ja furchtbar. Wie lange haltet Ihr das schon aus?«
    »Man kann sich an alles gewöhnen«, bemerkte Dr. Sargent knapp.
    Im Vergleich zu den anderen Frauen in diesem Saal machte Dr. Sargent einen ziemlich normalen Eindruck. Anne konnte nicht anders, sie mußte die Frage loswerden: »Sagen Sie, Doktor, warum sind Sie überhaupt hier?«
    Da begannen die Augen der Frau wild und zornig zu funkeln. Sie wollte zu einer Erklärung ansetzen, aber man sah, daß sie ein schlimmer Gedanke daran hinderte, und schließlich antwortete sie nur kurz: »Da müßt Ihr die da oben fragen.«
    Es würde nicht einfach sein, das Vertrauen dieser Frau zu gewinnen. Dessen war Anne sich sicher. Deshalb versuchte sie es auf andere Weise, indem sie die Vermutung äußerte, Dr. Sargent sei hier keineswegs als Patientin, sondern ihr obliege die Bewachung dieses Saales. Davon aber wollte Dr. Sargent nichts wissen; sie meinte vielmehr, hier bewache jeder jeden, das sei ein Grundprinzip in Leibethra.
    Anne mißtraute dieser Erklärung, und ihre Vermutung, Dr. Sargent könnte zu der Kaste der Orphiker gehören und nicht zu den Geisteskranken der Anstalt, wurde noch verstärkt, als Anne die Bitte äußerte, sie möge ihr mehr über diesen seltsamen Bruder Johannes berichten, über seine Vergangenheit und wo er sich aufhalte. Sie hatte das ungewisse Gefühl, daß dieser beklagenswerte Mann in irgendeinem Zusammenhang mit ihrem Fall stehen könnte.
    Doch da gab ihr Dr. Sargent unmißverständlich zu verstehen, daß derlei Nachforschungen unerwünscht seien, vor allem von ihr als Patientin. Dr. Sargent ließ auch keinen Zweifel, daß sie sie als Pflegefall betrachtete, nach jener angeblichen Erscheinung auf der Straße, an die sie einfach nicht glauben wollte. Zu der Abteilung, in der Johannes sich aufhalte, habe sie ohnehin keinen Zutritt, und daran möge sie sich halten.
    Anne war es nicht entgangen, daß das taubstumme Mädchen

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