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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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deutlich. »Anne – Anne.« Behutsam, um ja keinen Lärm zu machen, stand Anne auf und schlich zum nahen Fenster.
    In der Mitte der hellerleuchteten Straße, keine fünfzig Meter entfernt, stand ein schwarzgekleideter Mann mit auffallend weißem Gesicht. Guido. Anne schluckte. Sie riß die Augen auf. Mit der rechten preßte sie ihre linke Hand, daß es schmerzte, denn sie wollte sicher sein, daß sie nicht träumte. Anne wollte schreien. Es ging nicht. Als wüßte der schwarzgekleidete Mann, daß sie hinter diesem Fenster stand, wandte er ihr sein Gesicht zu: Er war es.
    Auf Zehenspitzen ging Anne zu Dr. Sargent. Die aber schlief, und Anne mußte sie erst wachrütteln, und selbst als sie wach war, ließ sie sich nur schwer dazu bewegen, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. »Hören Sie nicht den Rufer?« flüsterte Anne eindringlich.
    »Das ist unser Evangelist Johannes«, knurrte Dr. Sargent unwillig.
    »Nein!« entgegnete Anne. »Werfen Sie doch einmal einen Blick aus dem Fenster!«
    »Dann ist es Mauro, der Ballettänzer. Der muß manchmal nachts eingefangen werden. Er behauptet, früher beim Bolschoi getanzt zu haben.«
    Anne faßte Dr. Sargent am Arm. »Bitte kommen Sie. Ich will nur, daß Sie mir bestätigen, was ich sehe.«
    Dr. Sargent setzte sich auf. »Bestätigen? Warum soll ich das bestätigen?«
    Anne antwortete stockend: »Der Mann auf der Straße – ich glaube – ich bin sicher – der Mann auf der Straße ist mein Mann.«
    »Er ist hier?«
    Nach einer langen Weile: »Er ist vor drei Monaten bei einem Verkehrsunfall gestorben.«
    Die unerwartete Behauptung rüttelte Dr. Sargent wach. Sie blickte Anne ins Gesicht und erhob sich unwillig, als wollte sie sagen: Wenn es sein muß. Jedenfalls schlurfte sie in dicken Socken, die sie auch nachts nicht auszuziehen pflegte, zu dem kleinen Fenster und blickte nach draußen. Anne hörte noch immer das klagende Rufen: »Anne – Anne – Anne.«
    Verärgert bewegte Dr. Sargent den Kopf hin und her, stellte sich, um besser sehen zu können, auf die Zehenspitzen, dann drehte sie sich um und brummte, während sie zu ihrem Feldbett zurückging: »Ich sehe niemanden auf der Straße!«
    »Aber hören Sie doch, die Rufe!«
    »Ich höre nichts und ich sehe nichts«, erwiderte Dr. Sargent barsch. »Halluzinose in Verbindung mit Akoasmen, organische Erkrankung des Schläfenlappens im Gehirn.« Dann zog sie ihre Wolldecke über den Kopf und kehrte Anne den Rücken.
    Anne verstand ihre Worte nicht, aber sie vernahm noch immer das Rufen und preßte ihre Stirn gegen die Fensterscheibe: Guido war verschwunden. Doch in ihrem Kopf hallte das böse Echo: Anne – Anne. Ihre Augen bohrten sich in das Pflaster, aus dem das Rufen schallte, aber das Pflaster lag einsam und hell. Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein. Näherte sie sich dem Wahnsinn? Anne fühlte, ihr ganzer Körper war zum Zerreißen gespannt. Sie begann sich Gedanken zu machen, ob sie nicht in einer Traumwelt lebte, ob sie Guidos Tod und seine fatalen Folgen nur geträumt hatte, ob sie nicht zu einer hilflosen Figur geworden war in ihrem eigenen Delirium.
    Die Scheibe kühlte ihre heiße Stirn, und Anne preßte sie mit aller Kraft dagegen. Sie war nicht in der Verfassung, daran zu denken, daß Glas eine spröde Festigkeit besitzt, die mit einem Schlag nachgibt. Sie zitterte und starrte auf die leere Straße, und in ihren Augen sammelten sich Tränen. Da sprang das Glas mit schrillem Knall. Anne spürte, wie ein warmer Strahl über ihr Gesicht rann, dann war ihr, als stürzte sie endlos in die Tiefe, sie fühlte die Kälte eines schwarzen Abgrundes, der näher und näher kam, bevor sie hart aufschlug und das Bewußtsein verlor.
8
    A ls sie erwachte, war es noch immer (oder schon wieder?) Nacht, und in dem kahlen Schlafraum hatte sich nichts verändert. Mit den Händen tastete Anne nach ihrem Kopf. Sie trug einen Verband um die Stirn, am meisten aber erschrak sie darüber, daß ihre Haare kurz geschoren waren wie die der übrigen Bewohner auf Leibethra.
    Hier kannst du nicht bleiben, war ihr erster Gedanke. Aber noch bevor sie einen Plan faßte, was zu tun sei, kam ihr zu Bewußtsein, daß sie so, mit ihren geschorenen Haaren, in Leibethra aufgenommen war: Sie gehörte dazu, und es würde sich nie eine bessere Chance bieten, das Geheimnis dieses Ortes zu erforschen. Dabei hatte sie Angst, Angst vor Guido, der sich zu solchem Schauspiel hinreißen ließ, oder – wenn er es nicht war – Angst vor

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