Das Fuenfte Evangelium
Schweigen. Denken Sie an die Causa Galilei. Bis heute hat kein Papst ein gutes Wort für den beklagenswerten Galileo Galilei gefunden, obwohl jedes Kind in der Schule erfährt, daß Urban VIII. Galileo zu Unrecht verurteilte. Die Kirche gedenkt dieses Irrtums nicht in Demut, sondern mit Schweigen.«
Kessler starrte in sein Glas und nickte.
»Warum«, fuhr Losinski mit Heftigkeit fort, »sind wir Jesuiten die ungeliebten Ordensbrüder des Papstes? Warum wurde unser Orden mehr als einmal verboten? Weil wir nicht schweigen können. Gott sei Dank können wir nicht schweigen.«
»Gott sei Dank können wir nicht schweigen«, wiederholte Kessler, den Blick fest auf seinen Lambrusco gerichtet, mit verwaschener Stimme. Der moussierende Wein war nicht ohne Wirkung geblieben. »Gott sei Dank«, wiederholte er, »können wir nicht schweigen. Aber was hat das damit zu tun, daß Sie, Bruder Losinski, zweimal in der Woche ein finsteres Haus aufsuchen und dort Ihre Nächte verbringen?« Kessler erschrak, kaum hatte er den Satz ausgesprochen. Aber da er sich nun schon einmal so weit vorgewagt und nichts mehr zu verlieren hatte, und weil er ahnte, was in diesem Haus vorging, verstieg er sich zu der Bemerkung: »Der Zölibat macht uns alle kaputt!«
Losinski verstand nicht. Er sah Kessler fragend an, als habe der soeben behauptet, daß die Sonne sich doch um die Erde drehe, aber allmählich dämmerte es ihm, und er begann laut zu lachen, und sein Lachen übertönte den gewöhnlichen Lärm in der Trattoria. »Jetzt verstehe ich, Bruder in Christo«, rief er und drehte die Augen zum Himmel wie der heilige Antonius von Padua in Verzückung. »Aber Sie sind auf dem Holzweg. Dies ist ein sehr ehrenwertes Haus – jedenfalls was das sechste Gebot betrifft. Wenn Sie es wünschen, kann ich Ihnen da eine diskrete Adresse nennen, wo nur unseresgleichen verkehrt.«
»O nein, so war das nicht gemeint!« wehrte Kessler ab, und er spürte, daß ihm die Röte in den Kopf schoß. »Ich bitte Sie um Vergebung für meine schmutzigen Gedanken.«
»Ach was«, knurrte Losinski mit einer heftigen Handbewegung, die besagen sollte: nicht der Rede wert!, und er rückte näher an den Mitbruder heran: »Ich halte Sie für ebenso klug wie kritisch.«
»Das ist ein Grundsatz unseres Ordens. Sonst würde ich wohl nicht der Societatis Jesu angehören.«
»Nun gut.« Losinski machte eine Pause. Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf, und man sah ihm an, wie angestrengt er nach den richtigen Worten suchte. Schließlich stellte er die Frage: »Wie steht es um Ihren Glauben, Bruder, verstehen Sie mich recht, nicht um den Glauben an den Allerhöchsten, ich meine, wie stehen Sie zur Autorität der Mutter Kirche, zu den Dogmen de fide divina et catholica , dem Privilegium Paulinum oder dem Zölibat?«
Die Frage überraschte Kessler, und er wußte nicht recht, wie er antworten sollte. Losinski war ein verschlagener Kerl, man dürfte ihm jede Gemeinheit zutrauen. Also antwortete er vorsichtig und beinahe dogmatisch: »Die Lehren der heiligen Mutter Kirche unterliegen unterschiedlichen dogmatischen Gewißheitsgraden. De fide divina ist von Gott geoffenbarte Wahrheit und über jeden Zweifel erhaben, der Gewißheitsgrad de fide divina et catholica sieht vor, daß der Offenbarungscharakter einer Wahrheit sicher feststeht, und daß dieser auch vorbehaltlos gelehrt wird, de fide definita hingegen ist der schwächste, vom Papst ex cathedra verkündete Gewißheitsgrad. Wenn Sie darauf ansprechen, so beruht das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit auf der dogmatischen Tatsache, daß das Erste Vatikanische Konzil rechtmäßig war. Was das Privilegium Paulinum betrifft, so machen Sie mir die Antwort leicht. Ich verweise auf Paulus' ersten Brief an die Korinther. Daraus leitet die Kirche die Rechtsvorschrift ab, daß eine zwischen Nichtgetauften gültig geschlossene Ehe geschieden werden kann, wenn ein Ehepartner sich katholisch taufen läßt und eine neue Ehe mit einem Katholiken eingeht. Aus demselben Korintherbrief bezieht der Zölibat seine biblische Grundlage. Paulus spricht, der Ehelose sorge für die Sache des Herrn, der Verheiratete dagegen sei geteilt.«
Als bereite ihm die Antwort Schmerz, verzog Losinski sein Gesicht zu einer Grimasse. Eine Weile sagte er kein Wort, so daß Kessler nachdachte, was er Falsches gesagt habe; dann aber schimpfte der Pole los, er benötige keine Nachhilfe in Sachen Lehrmeinung der Kirche. Die habe er schon heruntergebetet zu einer
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