Das Fuenfte Evangelium
stehen soll.«
Losinski nahm Kessler beiseite und hieß ihn, keinen Steinwurf entfernt, auf den Stufen des Tempels des Jupiter Stator Platz zu nehmen, dann zog er eine Fotografie aus der Tasche, und auf einmal erinnerte sich Kessler, daß er bei seinem verbotenen Eindringen in das Zimmer des Polen viele Ansichten des Titus-Bogens gesehen hatte. Die Fotografie zeigte ein Relief, nicht unähnlich jenem im Durchgang des Triumphbogens. Es stellt römische Legionäre dar, die allerlei Beutestücke nach Rom bringen. »Ich verstehe nicht«, sagte Kessler und wollte Losinski die Fotografie zurückgeben.
Doch der wies sie zurück und begann zu erklären: »Zu Beginn meiner Arbeit an dem Pergament suchte ich vergleichendes Material der apokryphen Schriften, und Manzoni verschaffte mir die Erlaubnis, mich im vatikanischen Geheimarchiv umzusehen und Pergamenttexte aus derselben Zeit abzulichten. Der Aufwand war im übrigen wenig hilfreich; vor allem forderte er viel Zeit, weil nicht einmal die Scrittori, die Hüter dieser Geheimnisse, über ihre Geheimnisse Bescheid wissen. Tage und Nächte habe ich in dem Archiv zugebracht, und ich habe Dinge zu Gesicht bekommen, an die ein frommer Christenmensch nicht einmal zu denken wagt. Das Leben eines einzelnen Menschen ist zu kurz, alles zu sichten, geschweige zu lesen, was dort aufbewahrt wird, und mir kam der Gedanke, ob eine Kirche, die soviel zu verheimlichen hat, die Kirche der Wahrheit sein kann, als die sie sich immer ausgibt.«
»Ein beängstigender Gedanke!« pflichtete ihm Kessler bei.
»Jedenfalls sah ich mich im Geheimarchiv des Vatikans weit mehr um, als es für meine eigentliche Arbeit erforderlich gewesen wäre, und dabei stieß ich auf dieses Dokument.« Losinski klopfte mit dem Zeigefinger auf die Fotografie in der Hand Kesslers.
»Auf dieses Relief?«
»Bei der heiligen Dreieinigkeit, ja. Ich stellte mir natürlich dieselbe Frage, die Sie sich jetzt stellen, Bruder in Christo, und – Ihnen zum Trost sei es gesagt – ich fand ebenfalls keine Antwort. Damals wußte ich noch nicht einmal, daß dieses Relief vom Triumphbogen des Kaisers Titus stammt. Ich fand es nur äußerst merkwürdig, daß diese Darstellung von der Kirche als ›streng geheim‹ eingestuft und hinter gepanzerten Eisentüren, die nur von wenigen Auserwählten durchschritten werden dürfen, aufbewahrt wird. Offiziell dürfte ich das Relief nicht einmal gesehen haben, denn ich mußte vor meinen Recherchen geloben, daß ich mich in der geschlossenen Abteilung nur mit den mir aufgetragenen Dingen beschäftigen würde. Aber in einem unbewachten Augenblick, von denen es während meiner zweimonatigen Arbeit überhaupt nur zwei gab, fotografierte ich den Stein.«
Kessler schwenkte das Bild: »Und das ist die Aufnahme?« Als Losinski bejahte, hielt Kessler die Fotografie direkt vor die Augen, als könnte er ihr auf diese Weise ihr Geheimnis entlocken. Dann fragte er: »Wie in aller Welt gelangte dieses Relief in das vatikanische Geheimarchiv? Vor allem aber – warum?«
Losinski schmunzelte wissend: »Zu Ihrer ersten Frage: Es ist in Vergessenheit geraten, daß das Forum im Mittelalter unter meterhohen Schuttmassen begraben war, und darauf weideten die Kühe. Andere Ruinen dienten als Grund- oder Festungsmauern. So auch der Titus-Bogen. Er war in die Festung der Frangipani einbezogen, und von seinen Reliefs an der Außenseite war jahrhundertelang nichts zu sehen. Die Festung wurde geschleift, und als Papst Pius VII. 1822 den Wunsch äußerte, den Titus-Bogen zu restaurieren, da entdeckte sein Restaurator Valadier an der Außenseite diese Darstellung römischer Legionäre. Pius, der, wie wir wissen, unserem Orden wohlgesonnen war, zeigte sich zuerst hocherfreut über die Entdeckung aus dem 1. Jahrhundert, aber eines Morgens kam er in Begleitung seines Kardinalstaatssekretärs Bartolomeo Pacca und forderte von dem Restaurator, das Relief müsse sofort herausgebrochen und in den Vatikan gebracht werden. Valadier entgegnete seiner Heiligkeit, das sei nicht möglich, ohne das Risiko in Kauf zu nehmen, daß der Titus-Bogen einstürze. Da befahl Pius, den Triumphbogen Stein für Stein abzutragen und an derselben Stelle wieder aufzubauen. Anstelle des Reliefs mit den Legionären ließ Pius Travertinsteine einbauen, um auf diese Weise den Eindruck zu erwecken, das Relief sei dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen. Das Original aber wird seit dieser Zeit im Geheimarchiv des Vatikans aufbewahrt. Nun zu Ihrer
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