Das Fuenfte Evangelium
Zeit, da er, Kessler, noch in die Windeln geschissen habe – bei der heiligen Dreieinigkeit, so drückte er sich aus.
Trotz der unverkennbaren Wut beglich Losinski die Rechnung für beide, aber an diesem Abend fand er kein freundliches Wort mehr für Kessler. Schweigend gingen beide den Weg zum Kloster San Ignazio.
Was hatte er nur falsch gemacht? So sehr Kessler auch nachdachte, er fand keine Erklärung für Losinskis Verhalten.
3
A m nächsten Tag, nach getaner Arbeit im Institut, stellte der Junge den Älteren zur Rede: Er solle sagen, ob und womit er ihn beleidigt habe, er bitte im voraus um Vergebung.
Beleidigt? Dies, meinte Losinski, sei wohl nicht das richtige Wort. Er sei eher enttäuscht. Schließlich habe er sich bei ihm nicht nach der Lehrmeinung der Kirche erkundigt, sondern nach seiner persönlichen Ansicht. Sollte diese jedoch mit jener übereinstimmen, so sei jede Unterhaltung zwischen ihnen vergeudete Zeit und Manzoni sicher ein dankbarerer Gesprächspartner.
Das also war der Grund für Losinskis unverständliches Schweigen. Nun gut, wenn er sich offenbarte, brauchte Kessler sich nicht länger zu verstecken, und er antwortete, es könne doch überhaupt keine Frage sein, welcher Partei er zuneige, er achte Manzoni in seinem Amt als Profeß, aber er, Losinski, sei dem anderen an Kritik und Verstand überlegen, und daher müsse er für jeden Ordensbruder ein Vorbild sein, auch in seiner ablehnenden Haltung der Amtskirche gegenüber.
Die Worte Kesslers brachten Losinskis Augen zum Funkeln. Er hatte sich aufs angenehmste in diesem Kessler getäuscht. Kessler verstand es vorzüglich – und dadurch unterschied er sich grundlegend von ihm selbst –, seine eigene Meinung für sich zu behalten, eine Eigenschaft, die wahrhaft kluge Menschen auszeichnet. Wenn es einen Mitbruder gab, der für ihre Bewegung von Nutzen sein konnte, dann war es Kessler.
Einen Mann wie Kessler davon zu überzeugen, daß sein ganzes bisheriges Leben von einem Irrtum bestimmt worden war, bedurfte nicht großer Worte, sondern unumstößlicher Fakten, und deshalb entschloß sich Losinski, den deutschen Ordensbruder auf denselben Pfad der Erkenntnis zu führen, der ihn, Stepan Losinski, vom Paulus zum Saulus gemacht hatte.
Zuerst ging er mit Kessler auf das alte römische Forum, und er war nicht bereit, auch nur eine Andeutung zu machen, in welchem Zusammenhang dieser Ort mit dem fünften Evangelium stehe. Die Sonne stand tief und wärmte die Kühle des Nachmittags. Auf dem höchsten Punkt der Via Sacra, dort, wo ein Triumphbogen von den Ruhmestaten des Kaisers Titus kündet, hielt Losinski inne und sprach: »Ich weiß nicht, wie es um Ihr Wissen um die römische Geschichte steht, Bruder, aber sollte ich Dinge vorbringen, die Sie ohnehin kennen, so fallen Sie mir ins Wort.«
Kessler nickte.
»Dieser Bogen«, fuhr Losinski fort, »wurde im Jahre 81 nach Christus von Kaiser Domitian zum Andenken an seinen Bruder Titus errichtet. Nach der vorherrschenden Lehrmeinung verherrlicht dieses Bauwerk den Sieg des Kaisers Titus über die Juden im Jahre 70. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.«
»Die halbe Wahrheit?«
»Die Reliefs im Durchgang des Bogens zeigen den Kaiser mit einem Viergespann und eine Siegesgöttin, die einen Kranz über seinem Kopf hält. Auf der gegenüberliegenden Seite römische Legionäre, die Beutestücke aus dem Tempel in Jerusalem mit sich schleppen, den siebenarmigen Leuchter und die silbernen Trompeten. Die Reliefs zeigen nicht nur den Sieg der Römer über die Juden, sie verherrlichen auch den Sieg der römischen über die jüdische Religion. Ich glaube, da erzähle ich Ihnen nichts Neues.«
»Nein«, erwiderte Kessler. »Wenn ich nur wüßte, worauf Sie hinauswollen!«
Losinski grinste. Er genoß die unruhige Neugierde des Mitbruders, schließlich faßte er ihn am Arm und führte ihn um den Triumphbogen herum. Auf der dem Colosseum zugewandten Seite deutete er auf ein weiteres Relief: »Ebenfalls Szenen aus dem Triumphzug des Titus. Doch jetzt passen Sie auf, Bruder in Christo.« Losinski drängte Kessler auf die gegenüberliegende Seite: »Was sehen Sie?«
»Nichts. Verwittertes Gestein. Man könnte sogar zweifeln, ob die Steine nicht erst später an dieser Stelle eingefügt wurden.«
»Gut beobachtet«, rief Losinski und klatschte gegen das Mauerwerk. »Sie sind es in der Tat.«
»Schön und gut«, erwiderte Kessler, »ich verstehe nur nicht, in welchem Zusammenhang das mit unserem Problem
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