Das Fuenfte Evangelium
Kirche.«
»Ja, gewiß, aber nur, wenn es die Texte der vier anderen stützte.«
Vilosevic wurde kleinlaut: »Und das tut es nicht?«
Felicis Schweigen nahm die Antwort vorweg. »Im Gegenteil«, erwiderte der Kardinal, »es deckt die Schwächen der vier Evangelien auf, die in der Hauptsache darauf beruhen, daß Matthäus, Markus, Lukas und Johannes die Dinge, über die sie schrieben, nur vom Hörensagen kannten. Barabbas hingegen, der Urheber des fünften Evangeliums, war ein Zeitzeuge. Er schreibt, als habe er unseren Herrn Jesus gekannt, und bei ihm lesen sich große Teile der neutestamentarischen Überlieferung ganz anders.«
»Herr Jesus!« Vilosevic holte Luft. »Herr Jesus!« wiederholte er und fuhr fort: »Wer ist dieser Barabbas?«
»Das ist die Frage. Manzoni von der Päpstlichen Universität arbeitet fieberhaft daran. Er hat die besten Leute seines Ordens zusammengezogen, aber – so behauptet er – die entscheidenden Textstellen in bezug auf den Urheber des Evangeliums sind entweder zerstört, oder sie fehlen. Das Pergament wurde nämlich, bevor man seine Bedeutung erkannte, in Teilen verkauft, und es ist schwer, die einzelnen Fragmente wieder aufzufinden und zusammenzufügen.«
»Aber«, wandte Vilosevic verzweifelt ein, »es gibt doch eine ganze Reihe apokrypher Evangelien, die allesamt als Fälschungen entlarvt worden sind. Wer sagt, daß ausgerechnet dieses Evangelium echt ist?«
»Sowohl die Naturwissenschaftler als auch Bibelwissenschaftler und Koptologen kommen zu demselben Ergebnis: Der Text ist echt.«
»Und was ist der Inhalt?«
Der Kardinal ging zum Fenster zurück und blickte hinaus, aber er sah nicht den Petersplatz und nicht die Kolonnaden, er blickte ins Leere und antwortete: »Ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß der Satz: ›Du bist Petrus, der Fels, und auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen‹, in dem ganzen fünften Evangelium nicht vorkommt. Wissen Sie, was das heißt, Vilosevic, wissen Sie es?« Felici wurde laut, und seine Augen wurden feucht: »Das bedeutet, daß alles hier um uns herum unsinnig ist. Sie, ich und Seine Heiligkeit und eine Dreiviertelmilliarde Menschen haben ihren Glauben verloren!«
»Herr Kardinal!« Vilosevic trat auf Felici zu. »Herr Kardinal, mäßigen Sie sich, ich bitte Sie im Namen aller Heiligen.«
»Aller Heiligen!« entgegnete Felici bitter. »Auch die können Sie vergessen.«
Der Padre sank auf seinen Stuhl nieder und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er konnte es einfach nicht fassen, was der Kardinal gerade berichtet hatte.
»Vielleicht verstehen Sie jetzt die Unruhe, Padre, von der die Kurie erschüttert wird«, bemerkte Felici.
Und Vilosevic antwortete entschuldigend: »Ich habe das alles nicht gewußt, Eminenza, ich hatte wirklich keine Ahnung.«
Da fuhr der Kardinal wütend dazwischen: »Ihre ›Eminenza‹ können Sie sich sparen! Hören Sie! Gerade jetzt …«
Der Padre nickte ergeben. Nach einer endlos scheinenden Pause, in der Felici unbewegt aus dem Fenster starrte, begann Vilosevic vorsichtig: »Wenn Sie die Frage gestatten, Herr Kardinal, wie viele Mitwisser hat diese Entdeckung?«
»Das ist nicht die Frage«, erwiderte der Kardinal. »Die Entdeckung an sich ist allgemein bekannt, jedenfalls was die Wissenschaft betrifft. Koptologen und Altphilologen wissen seit langem von einem Pergamentfund in der Nähe von Minia. Aber weil die Grabräuber, denen das Pergament in die Hände fiel, ihren Schatz des größeren Profits wegen in einzelnen Stücken verkauften, konnte kein wissenschaftliches Institut das Pergament einer textkritischen Analyse unterziehen. Insofern ist der Inhalt weitgehend unbekannt geblieben. Anfang der fünfziger Jahre jedoch muß irgendein Wissenschaftler Verdacht geschöpft haben; denn zu dieser Zeit zeigten mit einem Mal verschiedene Leute Interesse an dem Pergament und begannen, Fragmente aufzukaufen.«
»Wußte die Kurie davon?«
»Einer der Aufkäufer war Kardinal Berlinger, der dem Heiligen Offizium vorsteht. Er schickte Emissäre aus mit der Maßgabe, jedes Stück zu jedem Preis für die Vatikanischen Museen zu gewinnen. Die Leute wußten selbst nicht, worum es sich bei den Pergamenten handelte; sie hatten nur den Auftrag, sie um alles in der Welt herbeizuschaffen.«
»Und ist das Vorhaben geglückt?«
»Zu einem gewissen Teil, Padre.«
»Aber das bedeutet doch …«
»… daß Manzoni über einen beträchtlichen Teil des fünften Evangeliums verfügt.« Und nach einer Pause
Weitere Kostenlose Bücher