Das Fuenfte Evangelium
erst wenige Jahre nach Mohammeds Tod zusammengetragen worden. Bruchstücke des Textes wurden auf Lederstücken, Steintafeln, Palmrippen, Holzbrettchen, den Schulterblättern von Kamelen und auf Pergament gefunden und zu einem Ganzen zusammengefügt. Es wird diesen Leuten keine Schwierigkeit bereiten, das fünfte Evangelium zu rekonstruieren und für ihre Zwecke einzusetzen.«
Vilosevic ging zu seinem Stuhl zurück und schüttelte nur immer wieder den Kopf. Dann fragte er: »Und Sie kennen den Text dieses Barabbas-Evangeliums?«
»Nein«, antwortete der Kardinal, »keiner kennt den ganzen Wortlaut; zum einen, weil er nur in Bruchstücken existiert, zum anderen, weil Professor Manzoni selbst diese Bruchstücke unter Verschluß hält, damit keiner der Übersetzer Einblick in das Ganze erhält. Die Geschichte lehrt, daß einem Jesuiten immer mit Mißtrauen zu begegnen ist.«
Der Padre zeigte sich irritiert von den Worten des Kardinalstaatssekretärs, und bei anderer Gelegenheit hätte er sie kaum unwidersprochen gelassen, aber in dieser Situation war die Diskussion über die Kirchentreue des Jesuitenordens zweitrangig. »Warum dann die Furcht vor dem fünften Evangelium«, erkundigte er sich unsicher, »wenn noch niemand den Text gelesen hat?«
»Manzoni hat ihn gelesen«, erwiderte Felici, »er kennt einen großen Teil davon, Berlinger kennt Bruchstücke und ich ebenso.« Der Kardinal, der bisher mit dem Blick zum Fenster gesprochen hatte, begann nun in dem großen Raum auf und ab zu gehen. Er war äußerst nervös, als er fortfuhr: »Dem gläubigen Christenmenschen nennen die vier Evangelisten acht Ereignisse als Grundlage seines Glaubens: Jesus ist empfangen vom Heiligen Geist – er ist geboren von der Jungfrau Maria – er hat gelitten unter Pontius Pilatus – er wurde gekreuzigt – er ist gestorben – er ist zu den Toten hinabgestiegen – er ist am dritten Tag auferstanden – er ist zum Himmel aufgefahren.«
»Herr Kardinal! Wozu diese Aufzählung?«
Felici ging auf den im Stuhl sitzenden Vilosevic zu. Er faßte ihn an den Oberarmen, schüttelte ihn wie einen Schlafenden, der endlich aufwachen soll, und rief mit erregter Stimme: »Weil dieser Barabbas alle diese Ereignisse in Abrede stellt! Wissen Sie, was das bedeutet, Padre? Wissen Sie es?«
Vilosevic nickte.
3
A us dem Vorzimmer drang Stimmengewirr, und nach kurzer Zeit erschien der Sekretär in der Tür und kündigte das Erscheinen seiner Eminenz, des Leiters des Heiligen Offiziums, Kardinal Berlinger, an. Er hatte noch nicht ausgesprochen, als der rotgekleidete Berlinger, gefolgt von drei Monsignori in wallenden Soutanen, in den Raum stürmte und, noch bevor er das Wort an Felici richtete, den anwesenden Vilosevic mit abfälligem Blick musterte, als wollte er sagen: Verschwinden Sie, aber schnell. Vilosevic machte auch Anstalten, sich zu entfernen, aber der Kardinalstaatssekretär kam ihm zuvor und sagte: »Bleiben Sie ruhig hier, Padre«, und an Berlinger gewandt: »Er ist in alles eingeweiht. Eminenza, Sie müssen kein Blatt vor den Mund nehmen.«
Berlinger zog die Augenbrauen hoch, um anzuzeigen, daß er diese Entscheidung mißbilligte, doch für Diskussionen war nicht länger Zeit. Wenn Berlinger den weiten Weg zurücklegte von der außerhalb der Kolonnaden gelegenen Piazza del Sant'Uffizio, wo er in einem Gebäude herrschte, das eher einem Verteidigungsministerium glich als der kirchlichen Behörde für Glaubensfragen, dann mußte das einen triftigen Grund haben. Vor allem die Begleitung dreier Monsignori seiner Behörde, die Berlinger selbst stets nur als Congregatio zu bezeichnen pflegte, eine Kurzform für Congregado Romanae et Universalis lnquisitionis , so wie sie unter Paul III. vor vierhundert Jahren zur Bekämpfung des Protestantismus ins Leben gerufen wurde, verlieh seinem Erscheinen noch größere Bedeutung.
Die Monsignori nahmen, ihre Soutanen sorgsam glättend wie drei modebewußte Damen, auf einer Stuhlreihe an der den Fenstern gegenüberliegenden Wand Platz. Ebenso Vilosevic. Dann ergriff Berlinger mit seiner unangenehm hohen Stimme das Wort: »Die Spreu macht nicht einmal vor den Leoninischen Mauern halt«, rief er voll Empörung. Wie stets bedurfte seine Redeweise der Interpretation; denn Berlinger hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, in biblischen Worten und Gleichnissen zu sprechen, was den Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes der Apostolischen Signatur, Kardinal Agostini, zu der ironischen Bemerkung
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