Das Fuenfte Evangelium
veranlaßte, das Neue Testament habe durchaus seine Qualitäten, aber sprachlich sei Berlinger besser.
Als Spreu bezeichnete Berlinger alle Menschen, die nicht dem rechten Glauben anhingen, wobei sich die Frage, was unter dem rechten Glauben zu verstehen sei, nicht stellte. Berlinger berichtete, die Schweizer Garde habe einen Hochstapler festgenommen, der sich als Priester verkleidet in das Geheimarchiv des Vatikans eingeschlichen und versucht habe, die Riserva zu betreten, die geschlossene Abteilung, deren Inhalt nur den Päpsten zur Kenntnis gelangen darf. Er habe sich in der Nacht einschließen lassen und während dieser Zeit versucht, das Schloß, das den geheiligten Zugang zu den Geheimnissen der Christenheit verschließt, zu erbrechen. Zwar habe das Schmiedewerk aus der Zeit Pius VII. dem Eindringling getrotzt, bis Gardisten, durch den verursachten Lärm aufgeschreckt, den falschen Priester festnahmen; nun aber stellte sich die Frage, wer dieser Mann war und welches Motiv ihn zu seinem Handeln bewog. Doch der Mann schwieg. Es scheine ein Deutscher zu sein.
»Ich befürchte …«, begann Felici.
»Ich glaube«, fiel Berlinger ihm ins Wort, »wir befürchten beide das Gleiche. Es scheint ein Zusammenhang zu bestehen zwischen dem Einbruch und – horribile dictu – dem fünften Evangelium.«
Felici nickte: »Das dachte ich. Wer ist dieser Mann, und wo befindet er sich jetzt?«
Berlinger blickte zur Seite, als schiene er gehemmt, weiterzusprechen. »Ich möchte Sie unter vier Augen sprechen«, sagte er leise.
Felici und Berlinger erhoben sich, sie gingen zum vorderen Fenster und steckten die Köpfe zusammen. Berlinger murmelte: »Sie kennen die Verliese Innozenz X. unter dem Cortile Ottagono?«
»Ich habe davon gehört. Es heißt, Innozenz habe sie unter dem Einfluß seiner Schwägerin Olimpia Maidalchini errichten lassen, um die Familie seines Vorgängers Moffeo Barberini mundtot zu machen.«
»Das ist vortrefflich ausgedrückt, Eminenza, wirklich vortrefflich.« Berlinger kicherte in sich hinein.
»Soviel ich weiß, sind die Verliese des Innozenz seit drei Jahrhunderten zugemauert!«
»Das schon«, antwortete Berlinger verlegen, »aber das bedeutet ja nicht, daß man diese Verliese nicht öffnen könnte, wenn Bedarf vorhanden ist.«
Felici trat einen Schritt zurück, er bekreuzigte sich flüchtig und rief, daß es alle hören konnten: »Berlinger, Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Sie das Verlies haben öffnen lassen, um …«
Da trat Berlinger dem Amtsbruder entgegen und preßte ihm die flache Hand auf den Mund: »Pssst!« sagte er. »In nomine Domini, schweigen Sie, Eminenza.«
»Sie sind wahnsinnig!« fauchte Felici nun leise. »Wollen Sie den Eindringling bei lebendigem Leib einmauern?«
»Es ist schon geschehen«, sagte Berlinger leise. »Oder wollen Sie ihn der römischen Polizei übergeben, damit er verhört wird und auspacken kann, warum er in das vatikanische Geheimarchiv eingedrungen ist. Wollen Sie die Verantwortung übernehmen?«
Felici faltete die Hände und blickte zu Boden, als wollte er beten, aber der Schock war zu groß, er bestürmte Berlinger: »Wer weiß von der Geschichte?«
»Drei in diesem Raum – außer uns.« Er warf den Monsignori einen Blick zu, den diese jedoch nicht erwiderten. Sie starrten betont teilnahmslos zu Boden. »Und Gianni, der die Maurerarbeit verrichtete«, fügte der Kardinal hinzu.
»Wer ist Gianni?«
»Unser Faktotum, ein frommer und gutmütiger Mensch, der jede Arbeit verrichtet, die man ihm aufträgt.«
»Aber er wird früher oder später auspacken und berichten, welche grauenvolle Arbeit man von ihm verlangt hat!«
Berlinger schüttelte den Kopf: »Das weiß Gott der Herr zu verhindern.«
»Wie meinen Sie das, Herr Kardinal?«
»Gianni ist stumm und taub.«
»Er wird sich auf andere Art verständlich machen!«
»Man wird ihm nicht glauben. Alle wissen, daß der Mann verrückt ist.«
Felici wankte zu seinem Schreibtisch. Er ließ sich in seinen Stuhl fallen und zog ein großes weißes Taschentuch aus seinem Ärmel, dann wischte er über sein rotes Gesicht. Die anderen sahen, wie er ratlos den Kopf schüttelte, den Kopf schüttelte, als könne, als wolle er nicht begreifen, was er soeben gehört hatte. Schließlich sprang er auf, trat auf Berlinger zu, der noch immer am Fenster stand, und brüllte, wie man es noch nie von ihm gehört hatte: »Berlinger, schaffen Sie mir diesen Gianni herbei. Er soll sein Werkzeug mitbringen. Wir
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