Das Fuenfte Evangelium
bemerkte der Kardinal: »Ich weiß, was Sie jetzt denken, Padre. Ich sehe es Ihnen an den Augen an, Sie denken, wenn sich das Pergament zu einem Teil im Besitz der Kirche befindet, dann könnte die Kirche dieses Pergament oder zumindest jene Passagen, die für sie eine Gefahr bedeuten, heimlich verschwinden lassen. Das denken Sie doch, Padre!«
Vilosevic nickte. Er schämte sich und murmelte: »Gott möge mir verzeihen!«
»Sie müssen sich nicht schämen«, entgegnete Felici, »ich selbst hatte den gleichen Gedanken, und ich bin nicht das einzige Mitglied der Kurie, das so dachte, als es davon erfuhr. Die Sache hat nur einen Haken, Padre.«
»Einen Haken?«
Felici nickte heftig: »Ausgerechnet die wichtigsten Teile des Pergamentes befinden sich nicht im Besitz Manzonis. Berlinger ist es nicht gelungen, jene Fragmente zu erwerben, in denen Barabbas über sein Verhältnis zu unserem Herrn Jesus berichtet oder in denen Jesus über die Zukunft seiner Jünger spricht.«
»Merkwürdig«, sagte Vilosevic nachdenklich. »Das kann doch kein Zufall sein!«
»Natürlich nicht«, antwortete Felici, »das ist mit Sicherheit kein Zufall.«
Vilosevic sprang auf. »Es gibt also noch andere Interessenten an dem fünften Evangelium.«
»Ihre Vermutung ist richtig, Padre.«
»Die Kirche soll erpreßt werden?« Vilosevic trat neben Felici ans Fenster. Er nahm dieselbe Haltung ein wie der Kardinal.
»Das ist denkbar, aber bisher gibt es keine Forderungen. Ich glaube auch nicht, daß irgend jemand aus dieser Sache Geld machen will, ich glaube vielmehr, daß unsere Heilige Mutter Kirche gedemütigt werden soll.«
»Mein Gott!« rief Vilosevic fassungslos, und in seiner Ratlosigkeit schlug er ein heftiges Kreuzzeichen. »Wer hat ein Interesse, sich an der Heiligen Mutter Kirche zu vergreifen?«
Der Kardinal hob die Schultern. »Die Leute Berlingers haben zwei Gruppen ausfindig gemacht. Beide bekriegen sich im Kampf um die Kirche bis aufs Blut, beide sind Fanatiker, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Motiven, und beide scheinen nicht nur über Abschriften jener vier Fünftel zu verfügen, die Manzoni mit den Jesuiten erarbeitet; es gibt Anzeichen, daß sie sogar über die fehlenden Fragmente verfügen, daß sie also im Besitz der vollen Wahrheit sind.«
»Was sind das für Leute?«
»Die eine Gruppe ist ein gefährlicher Eliteorden, fern aller Glaubensinhalte und unter dem Kommando eines wahnsinnigen Hermaphroditen, der sich als Wiedergeburt des Sängers Orpheus sieht. In der anderen Gruppe haben sich islamische Fundamentalisten zum Ziel gesetzt, die Heilige Mutter Kirche zu unterwandern und in die Knie zu zwingen. Eine Clique ist so gefährlich wie die andere, denn beide gehen mit unvorstellbarem Fanatismus ans Werk, die Orphiker – so nennt sich der Orden – aus intellektuellem Standesdünkel, die Fundamentalisten aus religiösem Sendungsbewußtsein. Beide Parteien verfügen über ein Netz von über die Welt verstreuten Anhängern und Kommandozentralen, von denen niemand so recht weiß, wo sie sich überhaupt befinden. Angeblich beherrschen die Orphiker ein Kloster im Norden Griechenlands, während die islamischen Fundamentalisten aus dem persischen Ghum gesteuert werden. Geld spielt bei beiden keine Rolle; deshalb haben sie nicht nur alle verfügbaren Fragmente des Pergaments erworben – oft für aberwitzige Summen –, sie haben auch die bedeutsamsten Wissenschaftler aufgekauft und, wenn diese sich nicht freiwillig zur Mitarbeit bereit erklärten, Gewalt angewendet, sie entführt oder durch Todesdrohungen eingeschüchtert.«
»Und diese Leute sind in der Lage, das fünfte Evangelium so auszuwerten, daß es gegen die Kirche angewendet werden kann?«
»Padre, das ist keine Frage. Einige der namhaftesten Experten auf den Gebieten der Koptologie und Bibelwissenschaft, die es auf der Welt gibt, sind in den vergangenen Jahren von einem Tag auf den anderen verschwunden. Sie haben ihre Familien zurückgelassen und ihre Karriere. Das ist kein Zufall. Orphiker wie islamische Fundamentalisten träumen von der Weltherrschaft, und der Islam hat uns vorgemacht, daß ein Buch mit 114 Suren in der Lage ist, die Welt zu verändern. Ein Buch, das vom Umfang ziemlich genau dem des Neuen Testamentes entspricht und mit unterschiedlichsten Mitteln rekonstruiert wurde. Denn es ist ungewiß, ob der Koran bereits zu Lebzeiten des Propheten Mohammed aufgezeichnet wurde. Die Überlieferung sagt, die weitverstreuten Aufzeichnungen seien
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