Das Fuenfte Evangelium
Gottes Namen!«
»In dem Pergament, dessen Teile über die ganze Welt verstreut waren, gibt es eine einzige Stelle, in der der Evangelist Barabbas seine Identität preisgibt. Und eben dieses Fragment befindet sich nicht im Besitz der Orphiker.«
»Deo gratias !« sagte Monsignore della Croce leise vor sich hin, eine unpassende Bemerkung – wie Berlinger fand –, die zeigte, daß der Leiter des päpstlichen Geheimarchivs von dem Fall keine Ahnung hatte. Berlinger zog die dünnen Augenbrauen hoch, warf dem Monsignore einen verächtlichen Blick zu und zischte: »Si tacuisses !« – eine nicht seltene Redensart in der Kurie, obwohl heidnischen Ursprungs. Dann sagte er an Guthmann gewandt: »Aber die Orphiker kennen natürlich den Aufenthaltsort dieses Dokuments und haben nichts unversucht gelassen, um seiner habhaft zu werden.«
»So ist es, Herr Kardinal«, antwortete Guthmann.
»Und mit Erfolg?«
Guthmann blickte zu Boden. Er fühlte gleichsam die Augen der Kardinäle und Monsignori auf sich gerichtet. In dem großen, kahlen Raum herrschte atemlose Stille, als er antwortete: »Es tut mir leid, aber das vermag ich nicht zu sagen. Das Original befand sich im Besitz einer Deutschen, die wohl versucht hat, möglichst viel Geld daraus zu machen. Sie kannte nicht einmal den Inhalt des Pergaments; aber je mehr Leute Interesse daran bekundeten, desto eigensinniger wurde sie. Zuletzt begegnete ich ihr in der Ordensburg der Orphiker, wo sie vorgab, über alles Bescheid zu wissen – über das fünfte Evangelium, über Barabbas, alles.«
»Halten Sie das für möglich?« fragte Berlinger unruhig.
»Ich kann es mir nicht vorstellen. Woher sollte sie diese Informationen gehabt haben?«
»Ihr Name?«
»Anne von Seydlitz.«
5
G uthmann wurde in einen entfernt liegenden Raum, eine Art Archiv, gebracht, in dem Tausende Buste in Sachen wider die kirchliche Lehre gestapelt waren: Verfahren wegen Übertretung und Mißachtung kirchlicher Gesetze, Irrlehren, Blasphemie und unerlaubte Reformationsversuche, die mit Bann oder Exkommunikation verfolgt worden waren wie die Bewegungen der Katharer und Waldenser. Guthmann wurde von zwei Gardisten bewacht; dabei dachte der Professor nicht im Traum daran zu fliehen.
Die Kongregation des Heiligen Offiziums indes beriet, was nach der neuen Sachlage geschehen solle, und dabei vertraten die Herren Kardinäle und Monsignori die unterschiedlichsten Auffassungen, die, wie überhaupt die ganze Anhörung, ex officio protokolliert wurde, und ein jeder redete nach seiner Eigenart.
Für Felici, den Alten, war die Endzeit der Kirche gekommen, hoffnungslos. Er verglich Rom mit der Hure Babylon und zitierte aus der Offenbarung des Johannes, wo der Engel mit mächtiger Stimme ruft: »Sie ist gefallen, sie ist gefallen, die große Stadt. Sie wurde zur Behausung für Dämonen, zum Schlupfwinkel für jeglichen unreinen Geist und zum Schlupfwinkel für jegliches unreine und verabscheuungswürdige Federvieh.« Eine Chance für die heilige Mutter Kirche erkannte er nicht mehr.
Dem wollte sich Kardinal Agostini, der oberste Richter der Kurie, keinesfalls anschließen. Die Kirche, argumentierte er einsichtig, habe größere Krisen als diese überstanden. Sie habe die Reformation des Doktor Luther mit einer Gegenreformation beantwortet, und sie habe Zeiten überstanden, in denen zwei Päpste an verschiedenen Orten um die Vorherrschaft kämpften und jeder den anderen als Teufel bezichtigte. Warum sollte sie nicht diese Krise überstehen.
Kardinal Berlinger stimmte dem mit der Maßgabe zu, die Kurie dürfe nicht den Dingen freien Lauf lassen und warten, was auf sie zukomme. Sie müsse vielmehr selbst die Initiative ergreifen und um ihren Fortbestand kämpfen, das heißt, sie müsse mit allen Mitteln versuchen, selbst in den Besitz des ketzerischen Pergamentfragments zu gelangen.
Dem gegenüber gab der Leiter des Geheimarchivs, Monsignore della Croce, zu bedenken, ob der Text des in Umlauf befindlichen fünften Evangeliums nicht schon vernichtend genug sei für die Lehre der heiligen Mutter Kirche, so daß alle Bemühungen von vornherein zum Scheitern verurteilt sein müßten.
Nur einer behielt seine Meinung für sich und schwieg beharrlich: Professor Manzoni von der Gregoriana. Er hielt den Blick auf den blankpolierten Tisch gerichtet, und es schien, als wäre er mit seinen Gedanken weit fort.
Auf Berlingers Frage, ob Seine Heiligkeit in vollem Umfang informiert sei und wie er dem Problem
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