Das Fuenfte Evangelium
Professor umständlich, »koptische Pergamente sind kein Vermögen wert, es gibt einfach zu viele auf dem Markt. Der Wert eines solchen Stückes wird weniger durch sein Alter oder den Erhaltungszustand bestimmt als durch den Inhalt des Textes. Und dieser Text scheint mir nicht uninteressant. Hier« – Guthmann nahm die Lupe und wies Anne auf eine bestimmte Zeile hin – »hier lese ich den Namen ›Barabbas‹.«
»Barabbas?«
»Ein historisches Phantom. Es geistert durch koptische Texte ebenso wie durch jüdische. Die biblischen Texte erwähnen ihn als Aufrührer. Sogar in den Schriftrollen vom Toten Meer wird der Name genannt, jedoch ohne irgendeinen Hinweis auf seine Bedeutung. Ein Kollege namens Marc Vossius, der an der California-Universität in San Diego lehrt, hat sich ein halbes Leben mit diesem Barabbas beschäftigt, und manche halten ihn deshalb sogar für verrückt.«
Anne von Seydlitz war auf einmal hellwach. »Verstehe ich Sie richtig, Professor, es gibt eine historische Persönlichkeit namens Barabbas, die von so großer Bedeutung ist, daß ihr Name in unterschiedlichen Überlieferungen auftaucht, ohne daß es bis heute gelungen ist, die Bedeutung dieses … dieses Phantoms zu analysieren?«
»So ist es.«
»Und dieser Barabbas ist auf diesem Pergament erwähnt?«
Guthmann nahm wieder die Lupe zur Hand, blinzelte durch das Glas und meinte: »Es hat zumindest den Anschein.«
Anne bohrte weiter: »Gibt es mehr solche historischen Phantome?«
»O ja«, erwiderte der Professor. »Nicht jeder von ihnen war so mitteilsam wie Julius Cäsar, über dessen Leben wir aus eigener Hand wissen; andererseits gingen viele Schriften verloren. Von Aristoxenos, einem Schüler von Aristoteles, wissen wir zum Beispiel fast nichts, obwohl er einer der klügsten Menschen war, die je gelebt haben. Er hat 453 Bücher geschrieben, aber erhalten ist nicht ein einziges. Von Barabbas kennen wir nur den Namen und mehrere Hinweise auf seine Persönlichkeit.«
Im weiteren Verlauf der Unterhaltung gab Guthmann zu erkennen, daß er selbst durchaus interessiert sei an dem Pergament, und Anne erkannte darin wohl auch den Grund, warum der Professor sich standhaft weigerte, eine Wertangabe in bezug auf das Objekt zu machen. Eine gute Woche, meinte er schließlich, solle sie ihm Zeit lassen. So lange brauche er, um sich mit dem Inhalt des Schriftstücks auseinanderzusetzen. Über das Honorar wurde überhaupt nicht gesprochen.
Anne fühlte sich nach dem Besuch bei Professor Guthmann ein wenig erleichtert. Warum, das vermochte sie selbst nicht zu erklären, doch fand sie sich nun darin bestätigt, daß das Pergament bei all den Merkwürdigkeiten der letzten Tage eine zentrale Rolle spielte.
Als sie durch das große Portal des Instituts ins Freie trat, huschte ein Mann an ihr vorbei, den sie schon einmal gesehen zu haben glaubte, aber sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Zu viele Bilder, zu viele Menschen begegneten ihr jede Nacht, als daß sie noch den Mut aufgebracht hätte, einen Verdacht zu äußern.
Auf dem Nachhauseweg suchte sie ein Bistro in der Theresienstraße auf, wo an hohen Marmortischchen köstliche Nudelspezialitäten angeboten werden. Anne dachte nach. Der Name Barabbas ging ihr nicht mehr aus dem Sinn.
Nachts, während sie sich auf ihrem Bett wälzte und Bilder an der Zimmerdecke erschienen und verschwanden wie in den Nächten zuvor, begann sie laut zu sprechen: »Barabbas, wer bist du? Barabbas, was willst du von mir?« Ängstlich lauschte sie in die Nacht, ob die geheimnisvolle Macht, die schon so viel Furchtbares bewirkt hatte, antwortete, aber es blieb still in dem einsamen Haus, nur der Westminster-Schlag der alten Standuhr im Parterre meldete sich regelmäßig.
Du bist wahnsinnig, jawohl, verrückt bist du, flüsterte Anne schlaftrunken, nur um sich Mut zu machen, dann fiel sie wieder in den quälenden Halbschlaf, der die Einbildungskraft fördert und die Vernunft betäubt wie eine Droge. So glaubte Anne auch, das Telefonklingeln, das sie auf einmal hochschrecken ließ, sei nur Einbildung, und sie preßte das Kissen über den Kopf, bis sie nichts mehr hörte.
Vielleicht, dachte Anne, als sie sich wieder beruhigt hatte, sollte sie lieber einen Psychiater aufsuchen, anstatt mit dem rätselhaften Pergament von einem Koptologen zum anderen zu ziehen. Aber dann würde sie vielleicht nie die Wahrheit erfahren, warum Guido ums Leben gekommen war und warum sie überall, wo sie nach einer Lösung suchte, auf
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