Das Fuenfte Evangelium
Willen durchzusetzen, als habe jemand von ihr Besitz ergriffen und beherrsche jede Bewegung und jeden Gedanken. Dann begann Anne laut Worte zu sprechen, und der Klang ihrer Stimme, die von den Wänden hallte, wirkte beruhigend, weckte sie auf aus ihrer Qual, und sie öffnete die Augen.
Ich muß, sagte sie sich immer wieder, die Wahrheit herausfinden.
Rauschenbachs Tod hatte Anne neuerlich in eine unangenehme Situation gebracht. Jedenfalls mußte sie sich peinlichen Verhören unterziehen. Sie hatte Schwierigkeiten, den Kriminalbeamten klarzumachen, daß sie Rauschenbach und seine Lebensgewohnheiten überhaupt nicht kannte und daß sie ihn vor seinem Tod nur ein einziges Mal gesehen hatte. Im übrigen sah Anne keinen Anlaß, den Grund für ihr Zusammentreffen mit dem Experten zu vertuschen. Sie habe, erklärte sie vor der Polizei, Rauschenbach die Kopie eines alten Pergaments zur Begutachtung überlassen.
Doch diese Aussage erwies sich unerwartet als folgenschwerer Fehler. Denn zum einen wurde die Kopie bei Rauschenbach nicht gefunden, zum anderen schien Annes Behauptung, das Original des Pergaments sei bei dem Autounfall ihres Mannes verschwunden, mysteriös und wenig glaubhaft, so daß Anne von Seydlitz zwar nicht der Tat verdächtigt, aber doch bezichtigt wurde, eine undurchsichtige Rolle in diesem Fall zu spielen.
Obwohl sie keinen Zusammenhang zwischen Rauschenbachs gewaltsamem Tod und dem Pergament erkennen konnte, war die Möglichkeit nicht auszuschließen. Das Verschwinden der Kopie deutete jedenfalls darauf hin, und je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr überkam sie die Ahnung, auch Guido könnte keines natürlichen Todes gestorben sein. Um weiterzukommen, mußte sie aber die Bedeutung des Pergaments kennen, mußte seinen kunsthistorischen Wert ergründen oder etwas über seinen Inhalt in Erfahrung bringen.
Anne erinnerte sich in diesem Zusammenhang eines Mannes, den Rauschenbach eher beiläufig erwähnt hatte und der ihr vom Namen nicht unbekannt war, mit dem sie aber noch nie zu tun gehabt hatte. Wie hatte Rauschenbach gesagt? – ›Schließlich gilt Professor Guthmann als der Experte schlechthin!‹
Mit einer zweiten Kopie machte Anne sich auf den Weg zu dem Institut in der Meiserstraße, einem pompösen Gebäude aus der Nazizeit, mit einem Treppenhaus aus Steinstufen und marmornem Geländer. Im zweiten Stock fand sie eine zweiflügelige, weißgestrichene Eingangstür mit dem Namen Guthmanns, doch wies das Schild streng darauf hin, daß Anmeldung und Zugang nur über Zimmer 233 möglich seien, ein Hinweis, dem Anne nachkam.
11
M an stellt sich Professoren an einem Universitätsinstitut meist als würdige alte Herren vor, mit Bauch und dunklem Anzug mit Weste. Guthmann paßte überhaupt nicht in dieses Klischee. Er trug Jeans und halblange, gewellte Haare und machte eher den Eindruck eines schlechtbezahlten Assistenten als den des Leiters eines Instituts. In der Mitte des Raumes, der mindestens die doppelte Höhe moderner Bauten hatte, stand ein langer uralter Tisch, und darauf ausgebreitet lagen aufgeschlagene Bücher, zahllose beschriebene Blätter und Stöße von Manuskripten herum, die mit Bändern verschnürt waren wie Geschenkpakete.
Guthmann zog unter dem Tisch einen abgewetzten Holzstuhl hervor, bat Anne, Platz zu nehmen, und fragte, was sie zu ihm führe. Anne bediente sich der gleichen Geschichte, die sie Rauschenbach aufgetischt hatte: Ihr sei das Pergament zum Kauf angeboten worden, und sie interessiere Wert und Inhalt.
Guthmann nahm das Blatt und musterte es mit zusammengekniffenen Augen. Dabei spitzte er den Mund und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als empfände er Schmerz. Er schwieg.
Plötzlich sprang er auf, als habe er eine erschreckende Entdeckung gemacht, kramte unter den Büchern und Manuskripten eine große, runde Lupe hervor, ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen und führte das Glas in waagerechten Bewegungen über das Blatt. Bisweilen schüttelte er ärgerlich den Kopf, aber im nächsten Augenblick verzogen sich seine Mundwinkel zu einem Schmunzeln, und er nickte verständnisvoll.
»Wo haben Sie das her?« erkundigte sich Guthmann.
Wahrheitsgemäß antwortete Anne: »Ich habe es nicht«, und unsicher fügte sie hinzu: »Es wurde mir nur angeboten.«
»Ich verstehe«, erwiderte Guthmann, ohne den Blick von dem Blatt zu lassen. »Was soll es kosten, wenn ich fragen darf?«
Anne hob die Schultern. »Ich soll ein Gebot machen.«
»Wissen Sie«, begann der
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